Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (438-11192)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
12. 08. 1926
Deutsch
Schlagwörter: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Meillet, Antoine Meyer-Lübke, Wilhelm Gilliéron, Jules Winkler, Emil Vossler, Karl Study, (Christian Hugo) Eduard Schuchardt, Hugo (1926) Cassirer, Ernst (1923–1931)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (438-11192). Pörtschach, 12. 08. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2294, abgerufen am 15. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2294.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Spitzer, Villa Leonstein Pörtschach a/See, 12. VIII. 1926.
Lieber verehrter Freund,
vielen Dank für Ihren Aufsatz Sprachverwandtschaft II. Meillet wird sich nicht freuen, noch weniger allerdings über meine Entgegnung, die ich mit gleicher Post in Korr. Ihnen sende. Warum sollte aber ich mich an Ihrem Opus nicht freuen, in dem doch gerade verschiedene Punkte sind, die mir wohltun, so die Anerkennung F. Mauthners, um die ich vor Jahren (ich glaube 1919) noch, wie es scheint, vergeblich gekämpft habe (M-L sagte mir damals: "Diese Richtung paßt uns nicht"). Allerdings würde ich beim "fait social" noch weiter als Sie gehen und sagen, daß, wenn Cassirer mit Recht in der Sprache eine "symbolische Form" der Welterfassung sieht, das Soziale doch nicht das Primäre ist.1 Ähnliches spricht Vossler in seinem neuerlichen Aufsatz in der "Zeitwende" aus.
Beispiele für Nachahmung in der Sprache sind eigentlich überflüssig, weil die Sprache von ihnen überfließt. Das Lebenswerk Gilliérons ist der sprachlichen Nachahmung gewidmet. Die 'hyperkorrekten' Formen sind eine der vielen Äußerungen der sprachl. Nachahmung.
Über den circulus vitiosus in unserer Wissenschaft habe ich auch geschrieben, in der Erwiderung gegen Winkler im Lbl., allerdings handelt es sich um künstlerische Probleme. Aber wo von Verstehen die Rede ist, wird sich immer der Zirkelschluß einstellen.
Das Wort "Sprachverwandtschaft" scheint |2|mir eigentlich eine ziemlich harmlose Metapher – glauben Sie, daß sie wirklich buchstäblich genommen wird?
Hier sind Vosslers, Study und andere. Sehr gemütlich.
Herzlichsten Dank und Gruß
Spitzer
1 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. (3 Bde.) Berlin: B. Cassirer 1923-1931.