Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (437-11191)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
02. 05. 1926
Deutsch
Schlagwörter: Universität Marburg Urquijo Ybarra, Julio de Menéndez Pidal, Ramón Gilliéron, Jules Meillet, Antoine Wackernagel, Jakob Jud, Jakob Tallgren, O. Johannes Vossler, Karl Tripolis Wechssler, Eduard (1926) Schuchardt, Hugo (1890)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (437-11191). Marburg, 02. 05. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2293, abgerufen am 15. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2293.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Marburg den 2. Mai 1926.
Verehrter lieber Freund!
Für Ihre beiden Briefe herzlichen Dank.
Ich habe eigentlich, wenn ich ehrlich sein soll, die Italiener, soweit sie sich offiziell geben, nie so recht gemocht. Die Phrasenhaftigkeit ihrer Zeitungen und Abgeordneten hat mich immer verstimmt. Das Volk war mir immer sehr sympathisch, daher ich so gern die Kriegsgefangenenbriefe bearbeitet habe. Die Mussolinipose ist nicht von heute: ich erinnere an den frechen Zugriff auf Tripolis. Damals murrte das Volk und die Zeitungen schrieben vom heroischen Wollen des italienischen Volkes.
Ich habe ein sehr gutes Datum für das eventuelle Ehrendoktorat Urquijo und Pidal gefunden: 1927 feiert unsere Universität ihr 400. Jubiläum. Da können diese Raketen steigen!
Frau Gilliéron hat einen todtraurigen Brief geschrieben, aus dem hervorgeht, dass sie ihren Mann aufgegeben hat. Er kann nur flüssige Nahrung nehmen und ist |2|zum Skelett abgemagert. – Meillet, jawohl, ein Gorilla – oder ein alter Rembrandtjude. Im Augenblick weilt er in Klausenburg. Er wird dort sicher zum hundertstenmale erklären, dass die Konjunktionen die Tendenz haben sich zu verstärken. Gibt es etwas Anspruchsloseres und Geistesärmeres als die Festartikel, die er für Pidal, Wackernagel usw. beisteuert? Als ob man ein Soustück in goldenem Rahmen bekäme? Wenn man eine gewisse Lebenshöhe erreicht hat, darf man sich eben alles erlauben. Was haben Sie übrigens zu der Wechsslerschen Phänomenologie1 gesagt? Mit welchem Shakespeare-Titel werden Sie wohl antworten: Verlorene Liebesmüh, Irrungen und Wirrungen, der Widerspenstigen Zähmung oder Viel Lärm um nichts?
Ihre Bemerkungen über meine Rezensionen "Amicus Plato" haben mich geradezu erschüttert. Das war nämlich das Motto, das mir beim Schreiben vor Augen gestanden hatte. Die geistige Transfusion ist weit gediehen.
Juds Aufsatz über tomar hat mich enttäuscht: Wie kann er über Ihre so einleuchtende |3|Deutung2 hinweggehen und die gradezu vertrottelte Raina's verteidigen? Wenn man schliesslich die drei Fest-Bände nicht bloss wiegt sondern erwägt, so wird man wie Sie pessimistisch: wie wenig Aufsätze, die wirklich einen methodischen Fortschritt bringen, der von Talgren etwa! Lauter kleine Lückenfüllungen, aber kein neues Gebiss. Ich muss mich an Vosslers lauerndes Lächeln erinnern, als ich einmal von spanischer Philologie sprach: "Haben sie eine Philologie?"
Nun heisst es Vorlesungen vorbereiten, geistiges Lagerbier ausschenken! Daher Schluss und ergebenste Grüße vom
Spitzer
1 Eduard Wechssler (Hrsg.), L'Esprit français. Ein Lesebuch zur Wesenskunde Frankreichs. Frankfurt: Diesterweg 1926.
2 H.S., "Span. port. tomar", in: Zeitschrift für romanische Philologie 14 (1890): 180.