Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (436-11190)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Marburg

21. 04. 1926

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Marburg Baskologielanguage Sardisch Menéndez Pidal, Ramón Castro Quesada, Américo Meyer-Lübke, Wilhelm Moldenhauer, Gerhard Urquijo Ybarra, Julio de Wagner, Max Leopold Wechssler, Eduard Vossler, Karl Winkler, Emil Gilliéron, Jules Meillet, Antoine Rodríguez Marín, Francisco Spanien Italien Frankreich Madrid Halle Wien San Sebastian Sardinien Bonn Paris Schweiz Jaberg, Karl/Jud, Jakob (1928–1940)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (436-11190). Marburg, 21. 04. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2292, abgerufen am 15. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2292.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Marburg, 21. IV. 1926

Verehrter lieber Freund,

Die schönen Tage von Aranjuez sind nun vorbei und man hat Zeit, am ruhigen Herd des Heimes alle Eindrücke zu überdenken. Im Ganzen: eine schöne Zeit, ohne Enttäuschungen und ohne Mißtöne, ganz hingegeben dem Aufnehmen und Hinhören oder Hinsehen, frei von der Verpflichtung, "sich zu äußern", "was zu sagen" und doch beladen mit der Pflicht, sich auseinanderzusetzen mit einer fremden Nation.

Summa summarum möchte ich sagen: Spanien ist mir nicht so lieb wie Italien (und noch weniger lieb als Frankreich), aber die Spanier sind mir lieber als die Italiener (wenn auch weniger lieb als die Franzosen). Alles Schöne in Spanien kommt von den Menschen, die aus dieser Wüste Paradiese gemacht haben.

Allerdings das Verständnis des Volkes ist nicht leicht. Das Problem, Formales und Wesentliches zu scheiden, ist fast unlösbar. Es scheint z.B., als ob die Katholische Seele Spaniens in der Oberschicht erstorben oder verkalkt wäre, |2|aber anderseits bleiben so viele Wesenszüge der katholischen Seele bestehen. Es scheint, als ob die Tauromaquía das ganze Land in einem Heldenkult einigte – aber anderseits ist man in Spanien durchwegs pazifistisch (außer vielleicht um Primo di Rivera herum). Es scheint, als ob die rein formale Bedeutung der Frau nicht länger haltbar wäre – und doch sieht man keine bemerkenswerten Zeichen der Emanzipierung usw.usw.

Es tut einem aber so wohl, unter einem Volk zu weilen, das würdevoll aber hilfsbereit, vornehm aber sozialdenkend, ernst ohne Pedanterie, lachend ohne Gemeinheit ist. Und überhaupt: das erstemal wieder als 'Student der Romanistik' in romanischem Neuland!

Die Krone von allem ist zweifellos Sevilla. Alcázar, Dom, Calle de las Sierpes, Murillo – welcher Segen! Granada folgt, dann Madrid. Selbstverständlich ist das nur eine Skala der persönlichen Lustgefühle.

Nun, was Sie wohl besonders interessieren wird, die Gelehrten und die Wissenschaft. Ich hörte eine Universitätsvorlesung von einem Kunsthistoriker: Rhetorik prima mit |3|Gesten, Donnergeroll usw. – ohne Spur von Sachlichkeit. Unfähig, das Bild der Juana Pacheco wirklich zu analysieren, immer abschweifend zu allen möglichen "tópicos".

Einen Professor der Philosophie von der Univ. Bilbao gesprochen. Ansichten: Philosophie soll durch Geschichte der Philosophie ersetzt werden; Philosophie als Gegenpol gegen den Glauben; libre pensador à outrance.

Die Romanisten: Menéndez Pidal, gar nicht so trocken wie er mir geschildert wurde, liebenswürdig, auch weltmännisch.

Am nettesten Américo Castro. Ziemlich französisch in seiner Lebensauffassung, offen und sprudelnd von Lebhaftigkeit, auch neueren Richtungen nicht abhold. Gegen mich wenigstens nicht arrogant, wie ich von M-L gehört und wie ich auch nach einigen Briefstellen angenommen hatte. Persönliche Bekanntschaft wieder einmal alles umstoßend oder neu aufbauend. Wir haben uns sehr gut verstanden und vertragen, waren zweimal 3 Stunden zusammen. Gespanntes Verhältnis des im Krieg franzosenfreundlich gewesenen Centro mit Dr. Moldenhauer, der |4|einen ungeschickten Artikel gegen Schädel's Politik der Annäherung gerade an diese franzosenfreundlichen Elemente (also an Pidal), in einer Hamburger Zeitung losgelassen hat. Natürlich dient man so nicht dem "intercambio intelectual".

Dr. Moldenhauer: Sympathisches Bürschchen aus Halle, das sich dort nächstdem habilitieren wird, aber ohne innere "Sendung"; charakteristisch: er ist nach Spanien gegangen, weil das das einzige Land gewesen sei, wo für einen Romanisten jetzt eine Stellung herausschaue; er veröffentlicht verschiedene altspan. Texte, 'weil er es schließlich begonnen hat' usw.usw.

Julio de Urquijo. Das ist eine wirklich sympathische und volle Persönlichkeit. Welcher Opfersinn für die Wissenschaft, den er bescheiden nicht als 'entusiasmo', sondern als 'afición' nur gelten lassen will! Welcher weltbürgerliche Sinn, erhaben über alle Kirchturmsinteressen, bei aller regionalen Verankerung. Er erinnert mich etwas an den mit der gleichen grandezza, dem gleichen Reichtum ohne Geprotze und dem gleichen Humor ausgestatteten Spaniolen Salom, den ich s.Z. in der Zensur in Wien kennengelernt hatte. Urquijo geht in San Sebastián wie ein König herum. Wir speisten hoch oben am Bergesabhang in einem Restaurant, wo man auf die Concha blickt, und plauschten 5 Stunden miteinander.

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Daß von Ihnen überall mit der größten Wärme und Verehrung gesprochen wurde, brauche ich nicht zu sagen. Sie sind wohl der deutsche Gelehrte, der für all die Taktlosigkeiten, die manche unserer Landsleute dort verbrechen (z.B. "Frau Geheimrat", wie Castro immer mit militärischer Haltung sagte), die Kompensation bietet.

Leider wird der Druck des spanischen Schuch.-Breviers inhibiert, da die Übersetzung Montesinos' ganz unmöglich sein soll. Mir war die Sache nie ganz geheuer.

M.L. Wagner soll den Intrigen Wechsslers zum Opfer gefallen sein. Er bezieht immerhin sein volles Gehalt und bereitet den Atlas von Sardinien vor.1

Eine Frage: soll ich in Marburg Urquijo oder Pidal zum Ehrendoktor vorschlagen? Und wüßten Sie bei Urquijo irgend ein Datum seines Lebens, zu dem diese 'Würde' genehm wäre?

Urquijo legte mir nahe, ich solle als Baskologe in Ihre Fußstapfen treten, um in die jüngere Generation Ihre Tätigkeit fortzupflanzen – leider bin ich "zu alt" dazu, um mich so zu 'verjüngen'.

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Können Sie glauben, daß ich etwas wie Heimweh nach Spanien empfinde? Es liegt wie ein leiser Hauch von Zwang in dieser deutschen Kleinstadt hier.

Vossler hat zu Ostern in Bonn gesprochen. Ich habe noch keine Berichte über seine Eindrücke (obj. und subjektiv).

Sie haben noch nicht Ihre Ansicht über meine letzten Arbeiten (im Lbl., Ztschr. usw.) zu äußern Gelegenheit gehabt.

Winkler hat einiges Giftige gegen meine Rez. geantwortet – und ich kaue soeben an meiner Gegenerklärung, die ich möglichst kurz und ruhig halten möchte. Ich weiß nicht, was das ist: von Zeit zu Zeit kommt man immer wieder in 'Händel' (Fronde) hinein, die man gar nicht wünscht.

Eine Nachricht, die mich mit tiefem Schmerz erfüllt: Gilliéron ist unrettbar verloren: Krebs in der Speiseröhre. Seine Frau (nicht er) weiß, wie es um ihn steht. Die Familie war wenige Tage, bevor ich in Paris bei ihm |7|anklopfte, nach der Schweiz gefahren.

Ich sah Meillet, der in der Konversation recht geistreich ist, aber doch zu spüren scheint, daß er langsam zur 'Reaktion' (wie er selbst sagt) hinübergleitet.

Ich habe nun ganz kunterbunt eine Masse Eindrücke "déversé sur vous" – fragen Sie bitte, was Sie interessiert, möglichst in den nächsten Tagen, bevor das Semester noch beginnt. – Richtig: Rodríguez Marín, dem ich von Ihnen Grüße überbringen wollte, kam krank und heiser in die Bibliothek, so daß ich verzichtete, ihm zur Last zu fallen.

Die allerherzlichsten Grüße von Ihrem altergebenen

Spitzer


1 Max Leopold Wagner war einer der wesentlichen Mitarbeiter (insbesondere für Sardinien) am Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz von K. Jaberg und J. Jud und hat in der Folge eine Reihe von weiteren Publikationen zum Sardischen vorgelegt.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11190)