Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (433-11187)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Marburg

17. 02. 1926

language Deutsch

Schlagwörter: Riegler, Richard Ettmayer, Karl von München Bonn

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (433-11187). Marburg, 17. 02. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2289, abgerufen am 29. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2289.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Mbg., 17. II. 1926.

Lieber, verehrter Freund,

Mit gleicher Post erhalten Sie das fragliche "Faust"– oder faustische Heft. Sollten Sie es von anderer Seite erhalten, bitte retour, da ich nur 3 Exemplare bekommen habe.

Für Ihren "Individualismus" in Reindruck besten Dank.

In der Riegler-Sache habe ich getan, was ich konnte. Ich habe nach beiden Seiten hin beruhigt und muß nun Ihnen beiden überlassen, ins Reine miteinander zu kommen. Ich finde, wenn sich alte Freunde 'streiten', sollen sie das miteinander abmachen – genau wie es nicht geraten ist, in Eheuneinigkeiten sich einzumischen. Siehe Molières "Médecin malgré lui", I. Akt. Ich habe schon die Anrufung der Publizität im Ettmayer-Fall nicht gebilligt. Was schadet es schließlich einem der Teile oder besser dem nachgebenden Teile, wenn er sich Klarheit selbst verschafft? Daß Sie, verehrter Freund, manchmal kränken können, wird Ihnen nicht unbekannt sein. Sie haben mich auch wiederholt gekränkt (ich sage das nur um des hist. Faktums willen). Also warum sollten Sie diese Möglichkeit in einem neuen Fall nicht in Erwägung ziehen können?

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Ich bin für dasselbe Verhalten zwischen den Menschen wie zwischen den Völkern und das führt von der Riegleritis zur Mussolinitis. Ich finde, wenn sich Menschen und Völker einmal in irgend welchen Punkten gefunden haben, sollten sie ihre Beziehungen nicht vorübergehenden Trübungen unterwerfen lassen – sofern ihnen die Fortdauer der Beziehungen von Wert scheint. Und wer wollte das zwischen Italien und Deutschland in Abrede stellen! Die Professoren sind leider immer die ersten, die in politischen Dingen 'gekränkte Leberwurscht' spielen – wohlgemerkt aber Professoren, die in Berlin oder München sitzen, während der Ruhrkampf in Bonn und Cöln andere, gemäßigtere Professoren vorfand. Ich finde, wir als Stand überschätzen unsere Führerpflichten: wir sollten auf den Gebieten führen, wo wir wirklich was verstehen. Und von Politik verstehen die Professoren im allgemeinen nichts – weniger jedenfalls als Arbeiter oder Kaufleute.

Deshalb machen auch die politischen Proteste von Professoren höchstens böses Blut, aber keinen Eindruck auf weitere Volkskreise. Die Professoren sollten lieber dahin wirken, daß die Jugend den Staat in sich selbst wiederaufbaut, d.h. nicht |3|die pedantisch-öden Saufereien noch befürworten, wie neulich ein Berliner Extraord. tat, der vom "Stoff" bei der Hochzeit von Kana sprach und die Antialkoholbewegung als undeutsche Bundesgenossin des Schmachfriedens von Versailles hinstellt (ging als Inserat durch alle deutschen Blätter). Wie die Dinge liegen, wäre es nationaler und auch mutiger, wenn die Professoren gegen den Saufzwang der Corporationen Stellung nähmen als daß sie Einladungen italienischer Kongresse ablehnten. Ich kenne die Fakultäten, ich weiß auch, wer in der Regel diese 'natio­nalen' Protestaktionen veranstaltet – ich bin also etwas gallig gegen diese Form des Nationalismus. 'Mangel an Ehrlichkeit' ist es, mit den Corporationen, die die deutsche Ehre so schänden, zu verkehren, ja ihnen zu liebedienen*

Heute habe ich einen grämlichen Tag, seien Sie mir deshalb nicht gram. Die nubila sind manchmal nötig, damit der Phoebus umso reiner erstrahle!

Mit herzlichstem Gruß

Spitzer

* Neulich Sonntag 3 Uhr nachmittag begegnete hier eine Privatdozentin dem sternhagelbesoffene Corps der Rhenanen, das brüllte: "In Hamburg kriegt man jede für Geld" (dies der Sinn des Textes).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11187)