Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (432-11186)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Marburg

07. 02. 1926

language Deutsch

Schlagwörter: Revue de Linguistique Romane Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Meillet, Antoine Lerch, Eugen Jaberg, Karl Meyer-Lübke, Wilhelm Curtius, Ernst Robert Steiner, Herbert Zauner, Adolf Richter, Elise Urtel, Hermann Friedwagner, Matthias Bertoldi, Vittorio Lewy, Ernst Vossler, Karl Meringer, Rudolf Spanien Schuchardt, Hugo (1925) Lewy, Ernst (1925–1926) Humboldt, Wilhelm (1925–1926) Vossler, Karl (1925–1926) Meringer, Rudolf (1925–1926) Spitzer, Leo (1925–1926)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (432-11186). Marburg, 07. 02. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2288, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2288.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Marburg, 7. II. 1926.

Verehrter lieber Freund,

Ich beantworte nacheinander die Punkte Ihres letzten Briefes vom 26.

Weihnachtsrührung – ja die muß auch den Poesielosen befallen, wenn man so ein kleines 4jähriges Wesen mit voller Stimme und vollem Wunderglauben singen hört: "Trommel, Pfeifen und Gewehr, Fahn und Säbel und noch mehr, ja ein ganzes Kriegsheer möcht ich gerne haben." Und bei der in demselben Lied vorkommenden Erwähnung des wartenden "Großpapas" kommen einem auch die Tränen. Was würde sich mein armer Vater gefreut haben über ein solches Enkelkind, er, den ich einmal in einem erschütternden Koseton mit einem kleinen Hund sprechen hörte, ohne daß er es wußte!

Sie merken, daß ich selbst an meinem eigenen Geburtstag schreibe – und da wandern die Gedanken in die Zeiten zurück, die vergangen sind und nie wiederkommen – und die man im Innern vielleicht doch nicht wiederwünscht.

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Die Spanienreise wird sehr oberflächlich nur sein können. Bibliotheken will ich wenig besuchen, auch wenig Gelehrte.

Über das ungleiche Maß, mit dem der Franzose Meillet die Revue de lingu. rom. und das doch viel Schönes enthaltende deutsche Jahrbuch f. Phil. mißt, habe ich mich geärgert und ich werde antworten.

In dem -ismus liegt das Ausschließliche, das Nur? Wirklich? Also sind sie bloß Individualist, da Sie den "Individualismus in der Wissenschaft"1 befürworten?

Ich will den mir unsympathischen Lerch gegen den mir unsympathischen Rohlfs verteidigen, weil jener in einer Einzelarbeit Unrecht haben kann, ohne daß die Beflegelung der ganzen wissensch. Persönlichkeit damit verbunden sein müßte. Das Fahnenschwenken der Lerchs ist mir sehr auf die Nerven gegangen und tut es noch jetzt, aber wenigstens haben sie nicht die Beintrockenheit wie die Rohlfs. Jaberg, dessen prächtigen Artikel über Ideal. Neuph. Sie gelesen haben werden, schreibt mir auch, es sei ihm peinlich gewesen, seinen Namen mit der "Rauflust" R.'s verbunden zu wissen.|3|

Bei Sainéan ist es so, daß natürlich sämtliche Getroffenen – ich bin es übrigens auch an einigen Stellen – sich zu einem "natürlichen" Abwehrbund zusammentun werden und erkären: Nichts Neues unter der Sonne. Und das empfinde ich als unrecht. Wir müssen als Gelehrte es so weit bringen, durch unangenehme Äußerungen hindurchzusehen und das Gute herauszuholen. Das Gute ist im Falle dieses Buches der Nachweis der prinzipiellen Nichtberechtigung von Etymologien wie troja > truie. Der von Ihnen geheimnisvoll angedeutete Gelehrte ist wahrscheinlich der zu ärgst getroffene – M.-L. Bei cloporte bin ich tatsächlich überzeugt, daß der prinzipielle Fehler darin besteht, daß man vom ?-Etymon und nicht vom 'Etymologizandum' ausging, also von scolopendra statt von clo-porte. Es handelt sich also bei dem was Sainéan will um eine Diesseits-Etymologistik (die diesseits des Hiatus ansetzt). Sainéan hat die Anschauung nicht geklärt, aber den Weg gezeigt (er trifft sich hier übrigens mit M-L). Der Fall ficatum > foie ist doch anders geartet als Troja > truie: die romanischen Verwandten sprechen eine deutliche Sprache und ferner ist eben ficatum belegt.

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"Jede Philologie ist durch ein Lieben zentriert". Es ist sehr bezeichnend, daß es jetzt wieder Liebe zu einzelnen Zeiten und Perioden oder Typen auch in der Literaturgeschichte gibt: Curtius für 20.Jh., Gundolf für den Helden, Unger für Sturm und Drang usw.

Ich erfahre noch immer nicht, ob H. Steiner, A. Zauner, E. Richter, H. Urtel oder M. Friedwagner es war, der Ihre Persönlichkeit richtig gezeichnet hat. Diskretion Ehrensache?2 – Ich wünsche sehr, daß Ihr Gesundheitszustand sich bessern möge und die Ermüdung, über die Sie klagen, weiche.

Ich habe in den letzten Wochen viel Ärger erlebt: gegen ein ital. Lektorat, das ich beantragte, hat die Naturforscherclique, die mein Kommen s.z. verhindern wollte, durch Separatvotum Protest eingelegt (3 Stimmen gegen die Fakultät). Diese nationalistischen Heißsporne werden sich und unsere Fakultät in Berlin schön blamieren. Es wurde dabei auf angebliche Vorfälle mit dem Bonner Lektor Bertoldi (Verf. der 'Herbstzeitlose') hingewiesen, die die Blätter beunruhigt hatten, in Wirklichkeit erdichtet waren. Diese Angelegenheit hat vielleicht 4stündige Rededuelle gebracht (mehrmals!), aber schließlich sind die Separatisten schmählich blamiert worden. Es tut wohl, die Dummheit anzuprangern.

Nächstens kriegen Sie, ein schöngedrucktes Heft von Lewy-Vossler-Meringer-Spitzer.3

Herzlichst
der letztere
.


1 Eine Anspielung auf Schuchardts Abhandlung "Der Individualismus in der Sprachforschung". Der Text wird in der Folge mehrmals erwähnt, auch schlicht als "Individualismus".

2 Es handelt sich bei den genannten Kollegen um Autoren schriftlicher Würdigungen anläßlich von Schuchardts Geburtstag.

3 Es handelt sich um die bereits erwähnte Sprache-Ausgabe von Faust. Darin sind enthalten: Ernst Lewy, "Das Wesen der Sprache" (S.3-12); Wilhelm von Humboldt, "Über die Sprache" (S.12); Karl Vossler, "Sprache als Ausdruck der Volkspsyche" (S.13-18); Rudolf Meringer, "Wörter und Sachen" (S.19-21); L.S., "Sprachwissenschaft und Wortkunst" (S.22-33).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11186)