Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (430-11184)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Marburg

13. 01. 1926

language Deutsch

Schlagwörter: Grazer Tagespost Jacobsohn, Hermann Lewy, Ernst Meillet, Antoine Riegler, Richard Riegler, Theodor Urtel, Hermann Rohlfs, Gerhard Vossler, Karl Vossler, Emma Lewy, Ernst (1925–1926) Urtel, Hermann (1926)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (430-11184). Marburg, 13. 01. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2286, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2286.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Marburg, 13. I. 1926.

Verehrter lieber Freund,

Für Ihre zwei Briefe und die Gratulation par ricochet herzlichen Dank.

Es wird Sie interessieren zu hören, daß der Antrag Deutschbein- Jacobsohn-Spitzer-Wrede, Ihnen zu gratulieren, von der Fakultät einstimmig genehmigt worden ist. Ihre Antwort habe ich noch nicht gelesen und werde über den Eindruck der Fakultät nach der nächsten Sitzung (wohl erst Ende Februar) berichten.

E. Lewy's Aufsatz ist tatsächlich der eine der 4 Leitaufsätze des "Sprache"-Heftes des "Faust".1 Das Viergespann hat etwas Gemeinsames, was, läßt sich schwer definieren. Vielleicht: Besinnlichkeit.

Ich finde, die 'französische Schule' hat keine Schul-Lehren. Das "fait social" ist ein Wort, soziologische Forschung treiben die Herren Meillet und Vendryes nicht. Ich werde das in meinem Sammelreferat zum Ausdruck bringen. Der Imperialismus, der nun den Norden Europas auch französisch kolonisiert, ist mir unsympathisch. Ich habe im Vorjahr einen Norweger Professor hier gesprochen, der mir seinen Ingrimm gegen |2|diese École mitteilte. Meillet hat viel Ähnlichkeit mit Chapelain, dem Hauptmatador der frz. Akademie von 1634.

Joidanich–Trombetti – ein typischer Akademienfall!

Riegler hat ebenfalls mir sein Herz ausgeschüttet. Es scheint, daß Sie vergessen haben, daß Sie zuerst die Sainéan Sache ihm gegenüber zur Sprache brachten und ihn jedenfalls zu einer Meinungsabgabe ermutigten. Sie haben ihm zweifellos sehr weh getan. Er liebt und verehrt Sie. Ich würde ihm an Ihrer Stelle, angesichts des Alters beider Beteiligten, ein paar herzliche Worte des "Laß' es gut sein!" schreiben. Riegler ist sehr leicht verletzlich und ich behandle ihn stets wie ein rohes Ei, obwohl es einem manchmal schwer wird.

In der Beurteilung seines Sohnes Theo hat er leider recht gehabt (nicht ich), obwohl er viel an Theo verschuldet hat. Wie finden Sie es, daß der junge Mensch, der vorigen Sommer einen ganzen Monat fast umsonst bei uns war, bei meiner Frau Geldschulden (gewiß nicht größeren Ausmaßes) gemacht bis heute nicht beglichen und auf einen Ordnungsruf meiner sich nicht gemeldet hat? Dabei verdient er ganz schön bei der 'Tagespost'. Das läßt vom Charakter Theos wenig Gutes erwarten, wie ja auch damals die Sache mit dem Besuch bei Ihnen gezeigt hat.

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Wegen des "Anderen" antworte auch ich nicht. Um Sie nicht aufzuregen – und mich auch nicht. Wir werden uns in diesem Punkte, der durch Jahre schon immer wieder uns nicht überein kommen läßt, nie verstehen.

Urtel's Maupassant2 ruht dort wo die übrigen Dinge, die er versprochen hat: θεων εν γουνασι. Jacobsohn berichtet, daß er, statt den Maup. fertig zu schreiben, im vorigen Sommer vorgezogen habe ihn zu leben: d.h. ein Rendezvous mit einer Studentin irgendwo 7 Tage lang abzuhalten. Relata refero.

Rohlfs ist beintrocken, ja. Wenn Sie ihn kennen würden, würden Sie das zugeben. Und auch ohne das, wenn Sie seine unreligiöse Sprachauffassung betrachten.

Die Mussolini-Rede ist gewiß nicht schön. Aber daß auch wir (ich meine: Deutschland) nicht ganz reines Gewissen haben, ist sicher. Wieso kommt es, daß plötzlich die Deutschen, die für Auslandsdeutsche sonst doch nicht so heiß empfinden, ein Herz für die 200.000 Südtiroler Bauern entdecken, sie, die die Existenz 3 Millionen hochentwickelter Deutscher in Tschechien gar nicht zur Kenntnis nehmen? Das sind politische Drahtziehereien. Ferner die Diskussion über die "primitiv gekleideten Individuen" da hat Muss. aus dem Herzen |4|jedes Romanen gegen den 'mensonge allemand' polemisiert. Ich liebe Mussolini wenig, aber wenn ich in unserem hiesigen Blatt von M's 'Hundsföttichkeit' lese, so frage ich mich, ob nicht auch wir etwas mehr Kritik an unseren politischen Handlungen und Urteilen üben sollten.

Ich bin nicht der Ansicht, daß politische Wechselfälle die Liebe zu den Ewigen der Menschheit trüben dürften. Was hat Mussolini mit Ariost und Dante zu tun? Diese beiden stehen deutschen Intellektuellen so nahe wie Mussolini Herrn Hitler. Die nationale Verbindung zwischen Mussolini und Dante ist nicht so fest wie das parteipolitische Band Mussolini-Hitler. Beschäftigen wir uns etwa nicht mit bayrischer oder österreichischer Literatur, weil Hitler das deutsche Vaterland maßlos geschädigt hat? Durch solche Erwägungen gewinnen wir ein wenig Stabilität in unseren Interessen. Und auch die Reise nach Italien sollte man im Interesse des Liberalismus (oder Antifaschismus) nicht unterlassen. Unsere hiesigen protestantischen Theologen fahren zu Ostern zu einem Kongreß nach Italien, auch Vossler fährt mit Gattin wahrscheinlich hin usw.

Herzlichst und ergebenst

Leo Spitzer


1 Es handelt sich um das dem Thema "Sprache" gewidmete sechste Heft des vierten Bandes von Faust. Eine Monatsschrift für Kunst, Literatur und Musik , eine Zeitschrift, die von 1921 bis 1926 in Berlin (Reiss) erschien und je thematische Hefte herausbrachte. Darin: Ernst Lewy, "Das Wesen der Sprache", 3-12.

2 H. Urtel, Guy de Maupassant: Studien zu seiner künstlerischen Persönlichkeit. München: Hueber 1926.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11184)