Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (429-11183)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
11. 01. 1926
Deutsch
Schlagwörter: Idealismus (Sprachwissenschaft) Positivismus (Sprachwissenschaft) Französisch
Baskisch Schulze, Wilhelm Menéndez Pidal, Ramón Navarro Tomás, Tomás Ettmayer, Karl von Meyer-Lübke, Wilhelm Hilka, Alfons Steiner, Herbert Lerch, Eugen Rohlfs, Gerhard Curtius, Ernst Robert Meillet, Antoine Spanien Portugal München
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (429-11183). Marburg, 11. 01. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2285, abgerufen am 09. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2285.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Marburg, 11. I. 1926.
Verehrter lieber Freund,
Also gut: Ihr cito erfordert mein bis.
W.Schulze lehnte nicht Ihre Weltanschauung als Mitarbeiterin an Ihrer wiss. Arbeit, sondern irgend eine Weltanschauung als Mitarbeiterin .... ab. Bes. der Fall der internation. Hilfsspr. war gemeint, wo Sie die Wünschbarkeit von Weltanschaulichen aus ins Treffen führten oder geführt haben sollen.
Von der Menéndez Pidal–Festschr. weiß ich eben wenig wie von Schuchardt Hispaniensis. Castro organisiert alles Mögliche, ich korrespondiere meist mit dem Sekretär Omero Onis, auch Navarro Tomás. Ich werde übrigens im März manches erfahren, da ich auf einen Monat nach Spanien reise. Ich habe ein Stipendium von 1000 M bekommen. Als letzter der jüngeren Romanisten werde ich also das verheißene Land sehen. Ein bischen fürchte ich mich, ob ich die jugendliche Reizsamkeit noch haben werde, ob ich nicht hoffnungslos embourgeoisé bin, familien- und fakultäthaft "versackt" usw. Man ist als 39jähriger Familienvater nicht mehr jung wie ehedem.
|2|Ich finde, die Akademien sind heutzutage eine Verteilungsstelle von Ehren, die in das Fakultätsgetriebe eine dissoziierende Unordnung hineintragen. Gott sei Dank, daß wir hier keine haben. Ich brauche nur an die Wiener und Heidelberger Verhältnisse zu denken! M.H. Jellinek nach vielen Jahren korresp. Mitglied. Much seit langen Jahren wirkliches Ettmayer Akademiemitglied. Meyer-Lübke fährt nach Portugal u. wird Akademie-Mitglied usw. Ich werde wohl nie (wissenschaftlich gesprochen) jenen geruhsamen und geheimrätlichen Eindruck machen, der mir den Eintritt in eine jener sublimen Körperschaften verstattet. Drucken lasse ich in Zeitschriften, die meine Sachen schnell bringen – Hilka z.B. kümmert sich überhaupt um Redaktionelles nicht, à la bonne heure! Ingerenz von Redakteuren wehre ich ab.
Ich verstehe wohl, daß Sie Sainéan's Worte gekränkt haben, obwohl man aus seinen Worten spürt, daß er Sie ganz anders behandelt als Meyer-Lübke und Thomas. Aber warum lassen Sie sich den Kern berechtigter Kritik an früherer Etymologik durch diese persönliche Bitterkeit vergällen? Daß zu stark konstruiert worden ist, ist sicher. Daß wir Ammenmärchen wie Troja > frz. truie noch bis jetzt geglaubt haben, ist eine Schande. Daß Sie selbst dem Zeitgeist sich nicht ganz |3|entziehen konnten, wer wird darin etwas Sonderbares finden? Daß Sainéan nicht neue Faktoren heranzieht, ist richtig (übrigens hat er ziemlich selbständig seit langem die "création métaphorique" praktisch betont) – wer könnte das? Sein Neues ist die quantitative Abschätzung des Konstruktionell-Ermittelbaren. Ich schrieb Ihnen schon s.z. und habe es in der "Werkstatt" auch ausgeplaudert, daß ich an Verknüpfungen wie die von bask. luki mit fernstehenden Sprachen aus diesem Grunde nicht glauben kann. Hier ist doch, wie ich glaube, bei Sainéan wie bei mir etwas Neues. Die Häufigkeit und Geläufigkeit eines Vorgangs festzustellen ist schließlich auch eine wissenschaftliche Leistung. Es ergibt sich daraus, daß man prinzipiell bei romanischen Wörtern nicht an ein bislang nicht belegtes Etymon (z.B. berecynthia) denken soll.
Ich "verstehe" wieder meinerseits nicht, wie ein – ist zweierlei sein kann in einem menschlichen Denkbereich wie dem Glauben, der Axiomatik. Ich kann doch nicht Monist und Dualist auf einmal, et ... et, partim ... partim sein. Idealismus ist eine bestimmte Axiomatik. Man kann praktisch bald mehr Material sammeln bald mehr den Gedanken leben, aber man kann innerlich nur nach einer Richtung hin streben: z.B. nach dem Gedanken, wie ich glaube auch Sie tun. Ein Mann wie Lommatzsch oder G.Cohn freut sich dagegen am Beleg als Beleg, am Tatsächlichen, weil es 'so ist'. Das ist doch Positivismus.
|4|[Teil scheint zu fehlen]
Beforschung schien mir an sich nicht unpassend, aber nicht recht zu Ihrer Stilphysiognomie zu passen. E. Bertram und Gundolf lieben derlei. Ein Gefühl, weiter nichts.
"Der Andere". Ich weiß noch immer nicht, wer das ist. Ich nehme an: Herbert Steiner.
Ist Caroline Michaëlis gestorben?
Warum sollen Sie nicht für etwas subskribieren, was Sie möglicherweise nicht mehr sehen? Ich würde an Ihrer Stelle "naiv" annehmen: Ich lebe ewig. Wir haben jetzt den "Zauberberg" zu Ende gelesen. Das ist ein Buch, das an solche letzten Dinge rührt.
Ich muß es aufs entschiedenste ablehnen, daß die persönliche Berührung mit Lerch (4 Stunden Aufenthalt in München), den ich als Menschen wegen seines arroganten Berlinertums nicht schmecken und nicht riechen kann, irgend etwas mit der Stellungnahme gegen Rohlfs, der mir persönlich gleich unsympathisch ist, zu tun habe. Ich gehe nur vom Format der Persönlichkeit aus und habe in mir eine gewisse natürliche Hierarchie-Tabelle, gegen die ich nicht gern Versündigungen in Kauf nehme. Wenn Lerch gegen Curtius ankämpft, werde ich für Curtius sein, wenn Rohlfs gegen Lerch, für Lerch. Wenn Meyer-Lübke gegen Schuchardt angekämpft hat, bin ich für Schuchardt gewesen. Wenn Meillet gegen Vossler kämpft, für Vossler. Die persönliche Kenntnis im Umgang ist allerdings sehr geeignet, wie ich glaube, um Fehlurteile über das Persönliche in bestimmten Werken zu korrigieren.
Ich habe nichts über Wassermann gelesen. Was ist damit und was habe ich mit ihm zu tun?
Herzlichste Grüße
Spitzer