Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (428-11196)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
02. 01. 1926
Deutsch
Schlagwörter: Baskologie Romanistik Idealismus (Sprachwissenschaft) Positivismus (Sprachwissenschaft) Universität Breslau Revue de Linguistique Romane Englisch
Ungarisch
Französisch Meyer-Lübke, Wilhelm Brugmann, Karl Friedrich Christian Vossler, Karl Rohlfs, Gerhard Lerch, Eugen Meillet, Antoine Grassmann, Hermann Günther (1844) Grassmann, Hermann Günther (1870) Grassmann, Hermann Günther (1863) Nykrop, Kristoffer (1897) Spitzer, Leo (1926)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (428-11196). Marburg, 02. 01. 1926. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2284, abgerufen am 02. 04. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2284.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Marburg, 2. I. 1926.
Verehrter lieber Freund,
Ihr individualistischer Aufsatz ist Labsal für den, der selbst Individualist ist. Er steht ja etwas im Gegensatz zum genius loci, der Akademie (Im Gegensatz zu Ihnen habe ich keine besondere Vorliebe für Akademien: ich habe nie etwas in diesen Kreisen veröffentlicht, eben weil ich mich so gefühlt hätte, wie jemand, der einen Parkett-Ballsaal allein zu durchqueren hätte). Aber es ist nur gut, daß die hieratischen Formen durch anmutiges, ja tiefes Geplauder ersetzt werden. Vor allem ist Ihr individualistisches Auftreten in dieser Schrift durch den Gehalt, den Nachweis eben Ihres Individualismus, salviert.
Daß ich Ihre Haltung dem Begriff 'Philologie' gegenüber nicht teile, habe ich schon öfter gesagt. Jede Philologie ist durch ein φιλειν, eine Liebe zentriert: das kann nur die Liebe zu einer Kultur- und Volkseinheit sein. Sie selbst sind viel weniger Nur-Sprachforscher als Sie wohl annehmen. Sie sind nur fünf- bis sechsfacher Philologe: baskischer, romanischer, magyarischer Philolog usw.
|2|Ihre Haltung gegen Sainéan, wenn auch verschuldet durch dessen unliebenswürdige Epitheta, ist nicht ganz nach meinem Sinn: schließlich waren auch Sie dem Zeitgeist des ausgehenden 19. Jhs. entsprechend sehr stark konstruktiv (denken Sie an calotte – καλυπτρα), daß dagegen eine Reaktion einsetzen sollte doch encouragiert werden (Sie selbst haben sich s.Z. gegen M-L's oskische […] Theorie gewendet). Die "étymologie prochaine" ist die bessere, auch wenn sie manchmal Gewaltsamkeiten beim Naherücken begeht.
S.4 Anm.: Brugmann hat in GRM einen netten Aufsatz über ein Wb. der Fachausdrücke als Desiderat geschrieben.
S.6 Ein 'Sowohl als Auch' kann es bei Idealismus u. Positivismus nicht geben, so wenig wie jemand auf einmal Christ und Jude sein kann. Das was Sie als Ihre Haltung andeuten, ist ausgesprochener Idealismus. Das -ismus heißt ein Tendieren nach einer Richtung. Die Gesamtpersönlichkeit einer Persönlichkeit hat Richtung, d.h. einen Zug nach einer bestimmten Seite hin, aber einen, nicht zwei.
S.7 "Ariosemitist" – hin?
S.8 wer ist der andere, der sich in Ihre Gedankengänge hineingelebt hat?
|3|S.10 ich selbst sollte einmal englisch sprechen und sagte igen (das ung. Wort) – offenbar aus dem Gefühl heraus: "Du sollst nicht romanisch sprechen."
S.11 sehr einverstanden mit dem was Sie über "Individualität und Individuelles" beim Etymologen sagen. Merkwürdig, daß Vossler, unsere 'Individualität', für die Etymologie, weder produktiv noch rezeptiv, ein Organ hat. Er sagte mir selbst, es interessiere ihn nicht, er vergesse auch sofort die Resultate. Vielleicht weil er den Wortsippen gegenüber nicht "spekulieren" kann? Weil er nun da sich wirklich an gegebene Sprachverhältnisse anklammern mußte? In "Geist u. Kultur" hat er ja nun versucht, sich etwas anzufreunden.
S.16 "an ihr" (der Philologenversammlg)? – nicht "bei ihr" oder besser "dabei"?
S.17 Grassmann war ein Beispiel eines Linguisten doublé d'un mathématicien.1
S.19 "Beforschung"?
Warum haben Sie meinen "individualistischen" Etymologischen Werkstatt-Aufsatz nicht mitzerrissen (mit Sainéan)?
Ich habe jetzt die verschiedensten Sträuße auszufechten: vor allem mit dem arroganten Rohlfs, dessen Fuhrmanns-Artikel gegen Lerch Sie gelesen haben werden. So dumm ist L. nicht. Anderseits fleht mich der niedergebügelte Lerch um Schutz an. |4|Ich habe mich also auch auf das 'Kuß'-Problem eingelassen,2 ohne dem Idealisten oder dem Positivisten zuzustimmen. Nach Breslau sind weder Rohlfs noch Lerch, sondern der ganz unbedeutende Neubert hingekommen.
Ferner streite ich mit Meillet wegen der süffisanten Art, mit der er das "Jahrbuch für Philologie" besprochen hat. Was mir auf die Nerven geht, ist das Herausstreichen alles Französischen: wenn in der neuen Revue de linguistique romane die Franzosen überhaupt fast nicht vertreten sind, so wird ein solches Unternehmen als ein Début mit "éclat" bezeichnet, ohne daß ich die geringste Neuorientierung in jener frz. Zeitschrift bemerken (M-L als Referent!) könnte. Aber die geistig neuartige Einstellung des Jahrb. wird durch Chicanen totgemacht. Er kocht mit Wasser und will es für Schaumwein ausgeben.
Nun habe ich 2 Briefe von Ihnen gut.
Mit den besten Neujahrswünschen
L. Spitzer
1 Hermann Günther Grassmann hat sowohl Die Wissenschaft der extensiven Größe oder die Ausdehnungslehre. Eine neue mathematische Disciplin dargestellt und durch Anwendungen erläutert. Leipzig: Wigand 1844, als auch Deutsche Pflanzennamen. Stettin 1870, verfaßt. Bedeutender für die Sprachwissenschaft ist sein Aufsatz "Über die Aspiraten und ihr gleichzeitiges Vorhandensein im An- und Auslaute der Wurzeln", in: KZ 12: 81-138; in diesem beschreibt er die Dissimilation von Aspiraten, was als Grassmannsches Gesetz bis heute zum Standard linguistischen Wissens gehört. Darüber hinaus ist er als Sprachforscher nicht wesentlich in Erscheinung getreten.
2 Spitzers Interesse für Nyrops Buch Kysset og dets historie geht schon auf das Jahr 1917 zurück. Jetzt arbeitet er aber an dem Aufsatz "Vom Küssen", in: Zeitschrift für französische Sprache 48 (1926): 371-378.