Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (427-11182)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Marburg

18. 12. 1925

language Deutsch

Schlagwörter: language Französischlanguage Baskisch Meillet, Antoine Rohlfs, Gerhard Lerch, Eugen Küchler, Walther Schürr, Friedrich Becker, Philipp August Vossler, Karl Spitzer, Emma Sperber, Hans Wien Rohlfs, Gerhard (1926) Spitzer, Leo (1926) Lerch, Eugen (1912) Spitzer, Leo (1913–1914) Lerch, Eugen (1913) Spitzer, Leo (1917–1919) Vossler, Karl (1919) Schuchardt, Hugo (1925)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (427-11182). Marburg, 18. 12. 1925. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2283, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2283.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Marbg., 18. XII. 1925.

Verehrter lieber Freund,

Entschuldigen Sie bitte die nicht postwendende Antwort. An der Zeitschrift-Sendung bin ich unschuldig. Ich verstehe nicht, warum Sie nicht dem Schicksal überlassen, in dieser Sache Ordnung zu schaffen. Ich wenigstens habe einen bei meinem Temperament besonders merkwürdigen Fatalismus allem gegenüber, was mir ins Haus geliefert wird. Erst wenn der Lieferant zur Bezahlung mahnt, kriegt er Ware oder Geld. Da fällt mir übrigens die neueste Bemerkung Meillets ein, die Gelehrten hätten kein Geld um Bücher zu kaufen und keinen Platz um sie unterzubringen – dies als Argument gegen die Veröffentlichung von Sammelbänden wie Jahrbuch f.Phil. I mit linguistischen u. literarischen Artikeln. Der gute Meillet kocht geistig mit abgestandenem Wasser. Ich habe nur gelesen, was er über meine Ital.-Umgangsspr. und das Jahrbuch sagt – mir unerträglich der autoritäre Ton in Verbindung mit so wenig neuen und entscheidenden Gedanken.

Was der dumme Rohlfs mit leidenschaftlicher Parteilichkeit gegen den gescheiten Lerch sagt (in der Ztschr.f.frz.Spr.: "Idealistische Neuphilologie"), ist leider richtig.1 Umso trauriger, daß ein bornierter Mensch einem ihm überlegenen schaden kann.

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Die erste Berufung nach der meinen ist wieder ein eklatanter Mißbegriff: die Breslauer Liste lautete I. Küchler, 2. Rohlfs, 3. Neubert. Der Untüchtigste, nämlich der letzte, ganz unbedeutend, wurde berufen. Und Lerch, Klemperer, Schürr kamen nicht einmal auf die Liste. Da hat Ph. A. Becker seine Hand im Spiel gehabt.

Gegen Rohlfs 'Kuß'-Polemik mit Lerch werde ich als langjähriger Erotico-Romanist einen galligen Artikel schleudern.2

Es tut mir leid zu hören, daß Sie infolge Ihrer körperlichen Leiden so wenig arbeiten können. Ich würde Ihnen vorschlagen, eine Arbeit über das Neufranzösische zu machen, etwa z.B. eine Charakteristik, wie Sie sie für das Baskische gegeben haben. Dazu brauchen Sie sich nicht aus Ihrem Lehnsessel zu erheben, brauchen kein Buch – nur Ihre langjährige Erfahrung – und hätten sofort die größte Reperkussion in Fachkreisen. Ein solcher höherer Utilitarismus scheint mir nicht verwerflich.

Sie haben mir noch nicht Ihr Urteil über Sainéan mitgeteilt.

Daß Lerch weit von Vossler entfernt ist, hebe ich in meiner Rez. der Syntax des ersteren hervor.3 Das Experiment des Ausdrückens meiner Etymologien in Vossler's Stil ist von diesem schon in seinem letzten Buch dort durchgeführt, wo er meine farfalla–Studie exzerpiert. Ich muß sagen, Vossler hat den Blick für das |3|Wesentliche, er sieht oft sogar das Wesentliche besser in dem von einem anderen geleisteten als der Autor selbst. Eine Be-Sprechung Vosslers ist fast immer etwas Neues, ein Gegengeschenk. So hat er in seiner "Franz.Philologie"4 der 'Klette' ein paar entzückende Zeilen gewidmet.

Ich freue mich sehr auf Ihren "Individualismus".5 Das ist ja auch mein Steckenpferd. Neuerdings ist das größte Schlagwort unter phänomenologischem Einfluß: die Sache sachlich. Damit ist zweifellos nicht der Realismus des vorigen Jahrhunderts gemeint, aber eine Durchseelung der Sache, die die Sache aus Totem zu einem Lebenden macht.

Ich weiß nicht, ob Sie im letzten Literaturblatt die Besprechung meiner Ital. Umgangsspr. gelesen haben (durch einen mir unbekannten Schweizer, Rogger mit Namen). Sie hat mich sehr getroffen oder vielmehr sie hat das Richtige getroffen: ich habe große Zweifel über unsere ganze Richtung, die aus Analyse von Einzelnem zu Synthesen vordringen will. Wie können wir je mit unserer atomisierenden Einstellung zur Erfassung großer sprachhistorischer Zusammenhänge gelangen? Sitzen wir nicht alle auf einem toten Ast?

Mein wissenschaftliches Que sais-je ? wird angenehm konterbalanziert durch das Zusammenwirken mit der Jugend. Ich kann nur wiederholen: ich habe eine solche innere |4|Freude am Geben, nicht nur am 'Belehren', sondern am 'Beraten', was vielleicht wichtiger ist. Neulich hatten wir das Seminar, etwa 15 Personen, Damen und Herren, bei uns zu Gaste. Das war so herzlich, so gemütlich. Wir plauderten, sangen, scherzten, diskutierten. Und als die Jugend um 4 Uhr morgens aufbrach, war Empi und mir wehmütig zu Mute. Wenn ich bedenke, wie freventlich mir dieses Herankommen an die Jugend durch die vielen Jahre vorenthalten wurde, so könnte ich traurig werden, sagte ich mir nicht, daß auch dies Leiden mich gereift hat.

Aus Kollegenkreisen habe ich weiter mich des größten Wohlwollens zu erfreuen. Sogar die urspr. feindlichen Kreise lassen jetzt verlauten, sie hätten den Kampf gegen mich vielleicht gar nicht notwendig gehabt.

Vor kurzem war H. Sperber hier, mich zu besuchen. Und, merkwürdig, es tat sich eine Riesenkluft zwischen uns auf: er ist im Innern Wiener Jude geblieben, ich bin, wenn ich so sagen darf, jüdischer Deutscher geworden, vielleicht schon in Wien durch die Wirkung der Gräfin Arco, weiter durch meine Frau und endlich durch die 6 Jahre im Reich. Als Typica des Wiener Juden würde ich den materialistischen Hedonismus, die Glauben- und Demutlosigkeit, die Indifferenz nationalen Problemen gegenüber, dem Beharren bei Lessing-Mendelssohn-Liberalismus usw. bezeichnen.

Nehmen Sie nun, verehrter Freund, zu den Feiertagen unsere herzlichsten Wünsche entgegen. Mögen Sie nur Schönes in diesen Tagen erleben, die durch eine eigenartige Weihe gehoben und getragen sind. Und lassen Sie bitte bald von sich hören!

Ihr altergebener

Spitzer


1 Gerhard Rohlfs, "'Idealistische' Neuphilologie", in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 48 (1926): 121-136.

2 L.S., "Vom Küssen", in: Zeitschrift für französische Sprache 48 (1926): 371-378.

3 Spitzer rezensiert zwei syntaktische Arbeiten Lerchs, nämlich dessen Prädikative Partizipia für Verbalsubstantive im Französischen (Beiheft zur Zeitschrift für romanische Philologie). Halle: Niemeyer, in Archiv für das Studium der Neueren Sprachen 131 (1913-1914): 225; sowie dessen "Das invariable Participium praesentis des Französischen (une femme aimant la vertu)" in Zeitschrift für romanische Philologie 39 (1917-19): 372-376.

4 Karl Vossler, Französische Philologie. Gotha 1919.

5 H.S., "Der Individualismus in der Sprachforschung", in: Sitzungsberichte der (kaiserlichen) Akademie der Wissenschaften in Wien, 204 (1925): 1-21.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11182)