Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (421-11176)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

18. 09. 1925

language Deutsch

Schlagwörter: Französischsprachige Literatur Revista de Filologia Española Vossler, Karl Curtius, Ernst Robert Lewy, Ernst Richter, Elise Meyer-Lübke, Wilhelm Appel, Carl Schultz-Gora, Oskar Hilka, Alfons Winkler, Emil Nicol, Henry Dilthey, Karl Vogüé, Eugène Melchior de (1868) Winkler, Emil (1912) Jud, Jakob/Spitzer, Leo (1914) Soissons, Raoul (1914) Winkler, Emil (1924) Winkler, Emil (1919) [o. A.] (1925) Meyer-Lübke, Wilhelm (1925)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (421-11176). Pörtschach, 18. 09. 1925. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2277, abgerufen am 29. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2277.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach, 18. IX. 1925.

Verehrter lieber Freund,

Ich schreibe rasch noch einen 2. Brief, nicht damit Sie zwei zu beantworten haben, aber weil ich eine Kreuzung von Korrespondenzen vermeiden möchte.

Bei der "Wortkunst" war mir tatsächlich Ihre Beurteilung gerade über die Endoskopie (Introspektion) wichtig. Nämlich deshalb, weil Vossler, Curtius, E. Lewy, also sehr verschiedene Menschen, mir herzlich gratuliert hatten, während die einzige Elise Richter mir den Vorwurf der Arroganz (zwar nicht aussprach, aber) durchleuchten ließ (vor allem der Schluß wurde als "Witz" gewertet). "Vom Ich wird nicht geredet" = "Le moi est haissable", klassische Übung – wie aber, wenn ich Romantiker wäre? Nun wollte ich eben von Ihnen hören, ob die Selbstbetrachtung ohne Selbstbeweihräucherung gelungen wäre, wie gerade Vossler und Lewy hervorhoben.

Übrigens haben Sie sicher den Artikel erhalten, denn auf ihn bezog sich ja das früher erwähnte lakonische "Bravo".

Gewiß, die frz. Lautgesetze scheinen mir weniger wichtig als Behandlung des Buches von Vogüé, "Le roman russe",1 das für neuere frz. Literatur Schicksal geworden ist. Aber erzählen Sie das bitte dem Typus Meyer-Lübke, Appel, Schultz-Gora, Hilka und wie alle |2|die neudeutschen Apostel der Romanistik heißen. Die große Unterlassungssünde der vergangenen Lehrer-Generation war es, daß sie den Romanisten keine Vision der Romania (oder auch nur der Galloromania) mitgegeben haben.

Kathederatmosphäre – fremde Verpflichtungen usw. möchte ich eigentlich nicht anerkennen. Zu lehren und das Notwendig-Scheinende zu lehren ist ja eine Verpflichtung, die ich mir durch meine selbstgewählte Laufbahn geschaffen habe.

E. Winkler:

1) Vergleich von Oudin mit Nicol, Beihft. z. Ztschr.2

– fleißig – unoriginell

2) Capitulare de Villis weist sprachlich auf Südfrankreich = falsch, hiegegen Jud – Spitzer in Wörter u. Sprachen3

3) Marie de France ist Marie de Champagne – einstimmige Kritikeransicht: falsch

4) Ausgabe der Raoul de Soissons4 – auf Grund Einer Hdschr.!

5) "Das dichterische Kunstwerk"5 – ein großer Scherenschnitt der aber nicht die Silhouette Winklers, sondern die Walzels, Diltheys, Lipps' zeigt

6) Über das Rolandlied6 – pädagogisch gute Einführung für Studenten.

Nun kündet mir, Graf Örindur.....!

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M.-L.'s Artikel "Vom Passivum" ist samt ganzer Luick-Festschrift7 schon erschienen. Hier haben sich 2 Romanisten, 1 Germanist und 1 Psychologe bemüht, dem trockenen Gewächs einen Saft zu entlocken – vergebens! Vielleicht gelingt es Ihnen. Werden Sie mich vielleicht gar davon überzeugen, daß ich zu Unrecht die hinter mir liegenden Schiffe verbrannt habe? Sie sollen nämlich bald eine sehr grämliche Antwort auf M-L's "Das Katalanische" erhalten!8

Sie sagen, Caritas sei altruistischer als Religio. Aber eine persönliche Beziehung zur Ethik muß vorhanden sein. Sie nennen sie Liebe. Gewiß – aber Liebe ist schon ein religiöser Begriff.

Herzlichste Grüße und alles Schöne von Ihrem ergebenen

Spitzer.

Die Ankündigung der span. Übersetzung des Breviers auf der letzten Seite der RFE9 läßt mich wenig Gutes ahnen.


1 Eugène Melchior de Vogüé, Le roman russe. Paris: Plon 1868.

2 Emil Winkler, La doctrine grammaticale française d'après Maupas et Oudin. Halle a.S.: Niemeyer 1912 (Zeitschrift für romanische Philologie, Beiheft 38).

3 J. Jud und L.S. edieren und kommentieren das Capitulare de Villis mit dem Versuch einer Neubewertung in Wörter und Sachen.

4 Raoul Soissons, Die Lieder. Hrsg. von E. Winkler. Halle a.S.: Niemeyer 1914.

5 Emil Winkler, Das dichterische Kunstwerk. Heidelberg: Winter 1924.

6 Emil Winkler, Das Rolandslied. Heidelberg: Winter 1919.

7 Neusprachliche Studien. (Festschrift für Karl Luick.) Marburg: Elwert 1925.

8 Wilhelm Meyer-Lübke, Das Katalanische. Seine Stellung zum Spanischen und Provenzalischen. Sprachwissenschaftlich und historisch dargestellt. Heidelberg: Winter 1925.

9 Die Revista de filología española.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11176)