Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (419-11174)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

06. 09. 1925

language Deutsch

Schlagwörter: Grazer Tagespost Vossler, Karl Spitzer, Emma Spitzer, Wolfgang Lerch, Eugen Meyer-Lübke, Wilhelm Hugo, Victor Richter, Elise Schürr, Friedrich Riegler, Theodor Riegler, Richard Gamillscheg, Ernst Rohlfs, Gerhard Curtius, Ernst Robert München

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (419-11174). Pörtschach, 06. 09. 1925. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2275, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2275.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach, Villa Leonstein, 6. Sept. 1925.

Verehrter lieber Freund,

Ich danke Ihnen für Ihren lieben Brief, der mir umso teurer ist, als er mit so viel Mühe geschrieben wurde. In dieser Hinsicht darf ich den wohl allzu naheliegenden Rat geben, daß Sie Briefe jemand diktieren – könnte das die blinde Dame nicht oder sonst ein verständnisvolles Wesen, das etwa täglich auf 1 Stunde käme? Gewiß, das Umstellen von scribere zu dictare, Schreiben zu Dichten, fällt anfangs schwer, aber es kommt der Reiz der zweiseitigen Korrespondenz (in doppeltem Sinn: Verkehr mit dem Briefempfänger und dem Briefniederschreiber) hinzu. Intimes könnten Sie ja noch immer selbst handschriftlich hinzufügen.

Vieles von dem, was Sie über mich sagen, muß ich als richtig anerkennen. So, daß ich in der Menschenbeurteilung oft mich geirrt habe und besonders bei den "Göttern". Aber diese Irrtümer teile ich mit aller Forschung: deshalb ist mein Ziel, Ergründung des Menschen, doch nicht Irrtum. Ergründung – das ist nicht identisch mit Etikettierung (wie Sie schon 1919 meine Art öffentlich nannten). Den Menschen ergründen heißt sich seelisch in ihn hineinversetzen, so daß man in ihm "sich auskennt". Gewiß muß man das sich sprachlich formulieren, was der Etikettierung zum Verwechseln ähnlich ist, aber nicht sein muß. Alle Literarhistorie ist ja schließlich, so weit sie mit der Dichterpersönlichkeit sich befaßt, auch in der Sprache niedergelegt und wäre somit auch Etikettierung? Wenn z.B. Vossler bei einem Gesellschaftsspiel, das jedem zur Aufgabe stellte, das ihm an andern charakteristisch Scheinende anzugeben, meine Frau so darstellte: "Ich [sc. Empi] habe Euch alle gern und Ihr könnt mich auch gern haben, mein Pucksi ist mir doch am liebsten" oder ich eine Dame so definierte: "sie sucht was sie gefunden hat", so scheint mir diese wörtliche Herausstellung von Imponderablem sehr wertvoll. Die Bemühung ums Imponderable ist sogar das Ziel solcher Übung. Allerdings, in Offizierskreisen wäre das nicht denkbar – aber ich habe auch solche Kreise nie gesucht, eben deshalb.

Ich gestehe gern, daß mir alles Arbeiten immer illusorischer scheint, je mehr es |2| vom Menschen wegführt. Immer weniger will mir Arbeit munden, die den Menschen außer Acht läßt. Daher die Bemühung um die Menschen und auch die Geselligkeit mit ihnen mir immer wichtiger scheint. Als ich in München heuer auf der Durchreise in Lerch's Bücherburg trat, spürte ich: Hier weht eine andere Welt. Die der Bücher, nicht der Menschen. Es mag sein, daß meine Haltung daher stammt, daß ich in meiner Jugend (bis zum 28. Jahr) nur Bücher und keine Menschen gekannt habe u. daß nun die Sehnsucht zu den Menschen hin immer gewaltiger hervorbricht und gerade durch reichsdeutsches Milieu nicht befriedigt wird. Gewiß ist alles Schöpfertum mit Kasteiung, Kastrierung wesentlicher Teile des Wesens verbunden, aber die alles Menschliche aufgebende Wissenschaftlichkeit scheint mir eine Versündigung am Leben, dem sie dienen soll.

Die universitätspolitische Frage, ob die romanistischen Ordinariate in zwei zerfällt werden sollen, möchte ich nicht unbedingt in Ihrem Sinn entscheiden. Ich habe sehr viel übrig für die national abgegrenzten Philologien ("rom., germ., slav. Philologie"), deren Objekt ein Volk in seinen kulturellen Auswirkungen ist. Was soll ein romanisches linguistisches Ordinariat sein. Soll es "das Menschliche" vom Sprachlichen trennen? Romanisch ohne Romanen?

Ich verstehe ein Ordinariat für Sprachvergleichung, nicht eines für vergleichende romanische Sprachforschung. Dann kommt es zu Einseitern wie M-L., der von V. Hugo ungefähr soviel weiß wie ein Gymnasiast der 5.Kl. Die Verpflichtung, Literatur neben Sprachwissenschaft zu treiben, ist doch wohltätig für den Linguisten, der sich sonst von den Maximalleistungen der Sprache allzu sehr entfernt. Das ABC-Schützenfranzösisch unserer Elementarbücher ist offenbar nicht das richtige Französisch. Außerdem ist gerade für Stilstudien, wie ich sie betreibe, der doppelseitige Betrieb der angezeigte. Aber natürlich, die Kraft für beides fühle ich nicht in mir.

Der Satz "Vossler loben heißt m.E. M-L tadeln", war von El. Richter geschrieben worden, "mein" bezog sich also auf diese, nicht im geringsten auf Sie. Sie haben mir aber doch noch nicht geschrieben, wie der Wortkunst-Artikel auf Sie gewirkt hat.

Schürr ist sehr enttäuscht, da Winkler ihm einen diplomatischen Brief schrieb, in dem W. ihm rät, die Grazer "Berufung" anzunehmen. D.h. auf deutsch, daß Winkler Schürr nicht neben sich haben will. Schürr, der noch von heute ist, kann sich derlei gar nicht vorstellen. "Sie werden sich an manches noch gewöhnen müssen, schöner Fremder".

|3| Theo Riegler, das Journalistengigerl, war bei mir. Er macht einen sehr netten und gescheiten Eindruck. Nach den Mitteilungen seines Vaters ist also sein Lebensbett gut bereitet. Gleich nach dem Doktorat kann er bei der Grazer Tagespost eintreten mit 5 Mill. Anfangsgehalt, was der Pension des seine Carrière beschlie­ßenden Vaters gleich kommt.

Bei Vossler dachte auch ich nicht an Fachsimpelei. Ich hasse nichts mehr als wenn die s.g. Gelehrten als Gefüllte auftreten, Wissensgefüllte, die sich nur sofort entleeren müssen. Ich gehe Fachgesprächen geflissentlich aus dem Wege, habe daher Schürr, der uns allzuoft mit seinem altfranz. Epos heimsuchte, mehr abgewinkt. Ich will nichts wissen von "Sachlichem", ich will Persönliches. Es zeigt sich bald, was für ein Gelehrter einer ist, wenn man sein Menschliches gesehen hat. Die Lückenausfüller (=Lückenbüßer?) scheiden sich dann von den Problemfindern nur allzuschnell. Also Typus Gamillscheg, Rohlfs (die jetzt malen) vom Typus Vossler, Curtius usw. Aber das ist schon wieder Klassifikation, daher basta.

Unser Gast Prof. Juroszek vom Wiener akadem. Gymnasium (Bruder des Romanisten) Gräzist und Philosoph von Beruf, hat mir wieder eindeutig gezeigt, wie wenig wir "akadem." Lehrer uns einzubilden haben. Welche Bildung, welche gedankliche Durchdringung aller Lebensgebiete, welche Umschau – und das alles errungen nach vielleicht täglichen 10 Stunden Broterwerb, Schul- und Privatstunden, Konferenzen, Heftekorrekturen, in einsamen, der Gattin abgetrotzten Nachtstunden!

Ich beneide Sie um Ihre Kunst, Ruhe zu suchen und Ruhe zu erzeugen. In mir drängt noch alles nach Unruhe. Ich werde wohl nie das harmonisch geschlossene Tätigkeitsbild zeigen, das Sie bieten können. Daher würde ich auch Ihre Einsamkeit nie ertragen. Wie froh können Sie darüber sein, daß ein gütiger Gott zum Schicksal auch die Fähigkeit, es zu ertragen, gespendet hat.

Daß dies dauere, wünsche ich von ganzem Herzen als Ihr ergebenster und treuer

Spitzer

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11174)