Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (418-11173)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

29. 08. 1925

language Deutsch

Schlagwörter: Revista de Filologia Española Vossler, Karl Schürr, Friedrich Frings, Theodor Richter, Elise Meyer-Lübke, Wilhelm Ribeiro, João Spanien

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (418-11173). Pörtschach, 29. 08. 1925. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2274, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2274.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach a/See, 29. VIII. 1925.

Verehrter lieber Freund,

Heute sind Vosslers abgefahren und die wehmütige Abschiedsstimmung mahnt, alle Seelenschulden abzutragen. So gedenke ich denn zuerst und am lieb­sten Ihrer, der Sie mit Ihrem Brief über polayna wie Ihrer heiter-melancholischen Karte an die Damen Leonsteins mich sehr erfreut haben.

Die Beziehungen zu Vossler haben sich in diesem Monat wieder inniger (wenn dies möglich ist) um uns geschlungen. Der Mensch Vossler in seiner Anmut und Würde, in seiner vielwendigen Aufgeschlossenheit und seiner wesensstrebigen Geschlossenheit ist ein einzigartiges, graziös-majestätisches Schauspiel. Umringt ist er von den zwei hohen Gestalten, die sein Leben verjüngen und fast kokette Randvignetten zu dem Gelehrtenleben ziehen. Unsere Unterhaltungen sind wie stets bei uns auf Psychologie mit leise werbendem Beigeschmack abgestellt: wir ziehen uns von der Welt zurück, um in die tiefen Schächte unserer Psychen hineinzuschauen. Alle eint die Überzeugung von der Größe des Menschen als πρώτη αλήθε[ια] vielleicht auch eine gewisse Flucht aus Wissenschaftlichkeit in Sachlichkeit.

Noch anwesend sind Schürr, der wegen seines Fatalismus und seiner gutmütigen Läßlichkeit oft verulkt wird, und der naturburschenhafte, offen-heitere Bonner Germanist Frings, mein bester Bonner Freund, ferner der Bruder des einstigen Romanisten Juroschek, der Prof. am Wiener akad. Gymnasium und ein feinsinniger Humanist und Psychologe ist. Die insgesamt 14 Menschen (incl. Kinder) sind eine Familie und die Verbrüderung steigerte sich am letzten Tage zu einer allgemeinen Verdutzung – indem wir uns alle zu duzen gelobten. Am Hochzeitstag wurde wieder wie alljährlich ein großes Fest mit Reden und Gedichten gefeiert. Das Vosslers war sehr tiefsinnig: anknüpfend daran, daß bei uns Aschenbecher fehlten, ermahnte er mich, die Asche mehr zu achten und nicht bloß Feuer und Flamme.

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Tatsächlich spüre ich, wie in mir die Freude am Brennen mich ganz verzehrt. Ich habe oft die Besorgnis, daß ich ein ewiger Junge bleiben werde, der sich am Verlieben mehr freut als am Lieben, am Entbrennen mehr als am rationellen Wechsel von Flamme und Asche. Fast kann ich sagen, daß mit den Jahren die romantische Sehnsucht und Grenzenlosigkeit größer geworden ist. Und sehr fürchte ich, daß meine geistige und wissenschaftliche Entwicklung abgeschlossen ist, nicht jene geniale Steigerung, Klärung und Harmonisierung finden wird, die man an Vossler bewundern kann.

Im Augenblick freue ich mich an dem Entbrennen neuer Freundschaftsgefühle für die Herren und Damen, die bei uns als Neulinge vorhanden sind. Warum kann aber die Seele sich nicht bis ins Ungemessene steigern?

Sie haben mir zu meinem Aufsatz über "Wortkunst" nur ein kurzes aber kräftiges "Bravo" zugerufen – und das läßt in mir die Befürchtung auftauchen, daß Sie Einwände nicht formulieren wollten. Ich wäre aber doch um offene Beurteilung dankbar, weil El. Richter, die Jubilarin, mit dem autobiographischen Charakter des Artikels wie auch dem Lob Vosslers, das nach ihrer Ansicht Herabsetzung M-L's bedeute, nicht ganz einverstanden ist. Ich frage also: 1) Klingt die Autobiographie arrogant 2) Ist die Einordnung meiner wissenschaftlichen Tätigkeit in die zeitgenössischen Strebungen gelungen?

Prof. Juroschek, der ein Schriftenkenner ist, analysierte neulich Ihre Schrift, ohne zu wissen, um wen es sich handle, und hat sehr interessante Ergebnisse erzielt, die mir richtig scheinen.

João Ribeiro hat in der brasilianischen Revista de fil. einen Artikel über mich geschwungen. In derselben Nummer wird auch M-L. anläßlich seiner Portugalreise gehuldigt, allerdings nicht verschwiegen, daß eine Universität ihn nicht gefeiert hat.

Ich denke, ich werde die nächsten Semesterferien dazu benutzen, um nach Spanien zu reisen. Die finanzielle Frage bedarf allerdings noch der Klärung.

Bitte bald um einen Brief.

Seien Sie ergebenst und innigst begrüßt von Ihrem

Spitzer

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11173)