Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (417-11172)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
10. 08. 1925
Deutsch
Schlagwörter: Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Universität Marburg Universität Innsbruck Baskologie Spitzer, Emma Spitzer, Wolfgang Vossler, Karl Körner, Joseph Schürr, Friedrich Frings, Theodor Frings, Hedwig Gamillscheg, Ernst Wechssler, Eduard Meyer-Lübke, Wilhelm Gilliéron, Jules Winkler, Emil Lerch, Eugen Riegler, Richard Riegler, Theodor München Graz
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (417-11172). Pörtschach, 10. 08. 1925. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2273, abgerufen am 29. 11. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2273.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Pörtschach A/See, Villa Leonstein, 10. VIII. 1925.
Verehrter lieber Freund,
Nun haben Sie schon dreimal mich mit Nachrichten verwöhnt und ich habe genug die Rolle des Vielbeschäftigten ausgenützt. Daher beeile ich mich, die erste freie Minute Ihnen zu widmen.
Ich habe in Marburg den Umzug bewerkstelligt und nach dem Einstellen der Möbel bin ich schleunigst abgedampft.
In Marburg hatte ich das Gefühl, keinen mir ganz fremden Boden zu verlassen. Im Gegenteil: Seminar und ich machten an einem der letzten Tage eine Nachttour mit Bowle, die am Schloss endete, wo ich um 1/2 3 Uhr nachts die italienische Canzone sang: Ogni sera di sotto al mio balcone... Die Studenten fühlten sich mit mir wohl schon durch ein romanistisches Band verbunden.
Mehr Sorgen macht mir Folgendes: Seit ich Ordinarius geworden bin, beobachte ich mich daraufhin, ob ich der Aufgabe auf die Dauer gewachsen sein werde. Werde ich die Geisteskraft haben, produktiv zu sein (oder zu bleiben?), werde ich mich weiterentwickeln? In Mbg. selbst bin ich der offizielle Vertreter des Faches – werde |2|ich Schüler erziehen können? Werde ich der Jugend auf die Dauer genügen? Die Kollegen und Freunde lächeln verbindlich, wenn ich diese Fragen stelle – aber so selbstverständlich scheint mir das nicht. Und man gewöhnt sich nicht leicht, von geistiger Anspruchslosigkeit zu leben. Überhaupt ist es unheimlich zu wissen, daß einem bis zum 68. Jahre jede Dummheit straflos erlaubt ist. Oft vermeine ich, nach den Vorlesungen eines Semesters eine innere Leere und Ausgepumptheit zu spüren. Und selbst bei den Vorlesungen, besonders literaturwissenschaftlicher Art, spürt man den Mangel an Kenntnissen, Vorkenntnissen.
Hier das übliche fröhliche Bild. Frau und Kind wohlauf. Anwesend: Vosslers, Körner, ein schwedischer Professor und ein Wiener Prof. am akademischen Gymnasium. Schürr kommt in wenigen Tagen. Am 20. dann Prof. Frings und Frau. Es wird wenig gefachsimpelt, umso mehr geflirtet und gespaßt. Wir haben schon in den wenigen Tagen Tränen gelacht. Nachtpromenaden, -escapaden, ‑orgien bis 2, 3 Uhr sind an der Nachtordnung.1 Immer mehr spüre ich in mir einen geradezu balzac'schen Lebensdynamismus, der mich treibt, alle Schranken und Fächer wenigstens ridendo zu überspringen.
Vossler unverändert. Jugendlicher fast als letztes Jahr. Seine gewissen Einseitigkeiten und Voreingenommenheiten werden durch die runde Grazie und die Güte seines Wesens kompensiert.
|3|Gamillscheg ist tatsächlich nach Berlin berufen worden, "zu meinem größten Schmerz", wie meine Frau mir schrieb. Ich empfinde diesen Schmerz nicht mit, denn ich bin vorläufig als selbständiger Fachvertreter wohler daran in Mbg. als ich in Berlin neben dem fahrigen und unzuverlässigen Wechssler wäre. Daß Gamillscheg diese Stellung nicht verdient hat, ist meine sichere Überzeugung: ich halte ihn heute für einen höchst unoriginellen Nachtreter M-L's und Gilliéron's. Ob Schürr die Nachfolge erhält, scheint mir bei der engen Freundschaft Winklers mit Gam. und bei der idealistischen Färbung Schürr's sehr zweifelhaft. Aber durch ein ev. Aufrücken Winklers in Innsbruck könnte die ital. Professur in Graz vielleicht mehr Lebensblut erhalten. Ich werde ja Schürr's An- und Aussichten in den nächsten Tagen kennen lernen.
In München habe ich Lerch besucht und einen leise skeptischen, weniger arroganten (als früher) Referendartypus kennen gelernt. Aber gescheit ist der Mann!
Was Sie mit Ihren Taubstummen erlebt haben, ist traurig, vor allem deshalb, weil die Leiden der Jugend Ihnen nahegebracht werden, ohne daß Sie helfen könnten. Es ist jedoch ein Zeichen Ihrer seelischen Rührigkeit, daß Sie sich in diese Sache hineingekniet haben.
|4|Für Ihr neuliches Vasconicum, das ich noch nicht lesen konnte, herzlichen Dank. Wo sind die Zeiten, da ich postwendend ein Separatum mit Bemerkungen darüber beantworten konnte!
Mein Baskologisches ist doch nur ein Hispanologisches.
Könnten Sie mir als einziger Zeitschrift-Besitzer, der mir jetzt erreichbar ist, Seiten- u. Bandzahl meines Artikels über frz. bigot (wohl 1924 oder 1925) mitteilen. – Das Zeitschriftheft mit der Stelle über Farinelli, die Sie zitieren, habe ich noch nicht,
Seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem altergebenen
Leo Spitzer.
Riegler ist aus Pirano gut erholt zurückgekommen. Theo, der in Graz einen Nervenkollaps gehabt haben soll, hat 1 Monat auf Leonstein bei meiner Frau zur Erholung geweilt. Meine Frau berichtet allerdings wenig Günstiges über seinen Charakter: egoistisch, unbescheiden, unmanierlich usw.
1 In dieser Zeit beginnt Spitzer zu einigen seiner Studenten eine intensive Beziehung, die sich darin äußert, daß einige von ihnen ihm nach Köln und sogar noch in die Emigration nach Istanbul folgen.