Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (413-11168)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
19. 03. 1925
Deutsch
Schlagwörter: Baskologie Zeitschrift für romanische Philologie Französisch
Baskisch
Etruskisch
Kaukasische Sprachen
Spanisch
Rumänisch
Hebräisch Gilliéron, Jules Humboldt, Wilhelm von Ascoli, Graziadio Isaia Terracini, Benvenuto Aronne Trombetti, Alfredo Lessiak, Primus Pușcariu, Sextil Densusianu, Ovid Curtius, Ernst Robert Giacomino, Claudio Vossler, Karl Vossler, Ester Vossler, Emma Riegler, Theodor München Bonn Baskenland Spitzer, Leo (1926) Spitzer, Leo (1928) Urtel, Hermann (1919)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (413-11168). Bonn, 19. 03. 1925. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2269, abgerufen am 03. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2269.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Bonn, 19. III. 1925
Verehrter lieber Freund,
Vielen Dank für Karte und Brief.
Mein "vermeintliches Antispitzertum" – nun, ich glaube, ich bin im Lauf der Jahre wahrhaftig immer weniger mißtrauisch und schwarzseherisch gewesen als berechtigt war (mit Ausnahme der Schlußwendung). Aber daß der Marbg. Curator das Zentrum der Antispitzer-Propaganda gewesen ist und durch unterirdische Verbindungen – V.d.St.! – Beziehungen zum Ministerium hat, ist mir stets von den Mbg.-Professoren, die für mich kämpften, gesagt worden. Und daß er nun eine freiwerdende Wohnung des Sanskritisten Oertel (der nach München berufen ist) mir, dem Romanisten (Hörerverhältnis 50:2!), nicht geben will mit der Begründung, die Wohnung müsse für den Nachfolger des Sanskritisten reserviert werden (der noch gar nicht vorgeschlagen, auch gar nicht leicht zu bekommen ist, jedenfalls ein wesentlich jüngerer Priv.-Doz. als ich!!), "um ihm die Berufung schmackhaft zu machen" – ich glaube, diese Tatsachen werden Sie zur Streichung des Wortes "vermeintlich" veranlassen. Daß für mich die Trennung von Frau, Kind und Büchern ein empfindlicher Schlag ist, der mein Seelen-, mein Familien- und mein wissenschaftliches Leben an der empfindlichsten Stelle trifft, haben Sie selbst hervor|2|gehoben. Daß ich den Kampf in dieser Angelegenheit nicht in die Studentenschaft tragen werde, wissen Sie. Aber daß ich mit Argusaugen die Dinge beobachten werde, um an maßgeblicher Stelle aufzutreten, können Sie sicher sein. Umsonst hat man mir nicht ein Jahr meines Lebens (1924-5) gestohlen. Auch weiß ich mich von der Empörung der Marburger philologischen Kollegen unterstützt. Wrede, Elster und Deutschbein ziehen jedenfalls an meinem Strick. An ihnen habe ich gute Freunde, ebenso gute wie in Bonn (die sich ja auch schon ebenso bewährt haben wie die Bonner, aber ohne mich zu kennen).
Jakobsohn1 kenne ich noch nicht, es geht ihm kein guter Ruf nach (oder voran). Auch wissenschaftlich nicht. Aber – vedremo.
Sie wundern sich, daß ich der Baskologie etwas mißtrauisch gegenüberstehe: ich muß mich gegen-wundern, daß Sie sich wundern. Ich predige doch gegen luki-raposo, d.h. also gegen allzu makroskopische Vergleichung von Sprachen. Die arische Brille ist nicht die richtige, gewiß – aber das arische Mikroskop hat viel für sich. Die Regellosigkeit des Baskischen, seine Unzentralisiertheit und Unkünstlerischheit scheint mir nicht der geeignete Boden, um eine Kultursprache zu erforschen. Und ich bin, je älter je mehr, Kultur- oder, wie Lorck neuerdings druckt, "Seelensprachforscher", also Französist, Gallizist à outrance. Im Französischen, der best beobachteten |3|Sprache, wo die rhodischen Sprünge nicht allzu groß sein dürfen, da gilt es zu arbeiten, weil da etwelche Sicherheit erreicht werden kann. Der Gilliéron'sche Sprachatlas hat leider eine kluge nacheifernde Wortforschung auf frz. Gebiet verhindert, aber sie wäre möglich. Beim Baskischen bleibt immer so viel graue Theorie übrig: Die Tatsache, daß der eine das Baskische zum Etruskischen, der andere zum Hamitisch, der dritte zum Kaukasischen (und ebenso die Einzelwörter entsprechend) stellen kann, macht mich etwas unsicher. Ich leugne u. tadle auch nicht, daß für Sie das Baskische das Zugangstor zum Glottogonischen bedeutet. Ich spreche nur von meinem, wenn Sie wollen hochmütig gallischen Standpunkt, der auch nur mein persönlicher, für mein praktisches Handeln bestimmender sein soll.
Sprachen kommen tatsächlich "in Mode": so war es mit dem Albanesischen, so ist es (nicht bei Ihnen) mit dem Baskischen. Diese Mode hängt aber nicht nur vom Bekanntwerden entsprechender Denkmäler ab wie beim Tocharischen, Hethitischen usw.
Ich gehe nun "zum Angriff" über: Sie werden doch nicht leugnen, daß viele Ihrer Leser sich bei einer Erörterung über Allgemeinsprachliches, die bask. Beispiele heranzieht (in der Z.f.rom.Phil.) gefragt haben: "Warum kommt er uns nicht spanisch, nein, just baskisch?" Ich sage wieder: ich begreife es, es liegt die Filiation Humboldt–Schuchardt–Trombetti vor und noch die speziellen biographischen Gegebenheiten Schuchardts aber – begreifen es |4|auch die Leser alle? Und merkwürdig ist, daß Sie ein so reges Verhältnis zum Sprachlichen vor unseren Augen haben – Ascoli, wie jetzt der wahrhaft "benvenuto" Terracini zeigt, hat kein Verständnis für sprachliche Realität, ebenso wenig und noch weniger Trombetti – aber Sie, der Romanist?
Also, es wird mir stets unklar bleiben, daß man (nicht: daß Sie) als Romanist – ins Baskenland ausweicht, Peripheriker statt Zentrumsmann (in meinem Sinn) ist. Eigentlich ist ja schon "deutscher Romanist" eine Unlogik: man sollte nur deutsche Germanisten anerkennen. Den Typus des regional gesättigten und theoretisch geschulten Germanisten oder Romanisten (z.B. Lessiak) schätze ich hoch.
Allerdings ist merkwürdig, daß die eingeborenen Linguisten ihre eigene Sprache oft so ansehen als ob das Sanskrit wäre: der Fehler Ascoli's, aber auch jetzt der Fehler Puşcariu's, Densusianu's und ihrer Leute. Sie haben wohl den 1000 Seiten starken Band der Dacoromania III nicht mehr heben können (ich kann es auch nicht) – aber, die Konstruktionen dieser Rumänologen sind oft federleichte Gebilde. Da streiten im 2. Bd. Giuglea und Puşcariu darüber, ob umblà in buestru 'im Paßgang gehen' von boja 'Fußfessel' oder ambulare (*imbu/estru) kommen kann. |5|Alles Mögliche ist für beide verzweifelt schlecht einleuchtenden Erklärungen angeführt und die einzig mögliche Deutung *bovestris (Tiktin) nur so nebenbei abgelehnt: weil das Pferd nicht wie ein Ochse gehe! Aber wenn das Pferd langsamer, weil behindert geht, kann man doch von einem Ochsengang des Pferdes reden wie von einem Schneckengang des Menschen, ohne daß der Mensch normalerweise wie eine Schnecke geht!
Oder im 3.Bd. soll cătelin, c ătinel 'leise, vorsichtig, heimlich' ein cautēla +-īnus sein: * cautelīnus > *căterin > Dissim. cătelin. Aber daß einfach cattus vorliegt (andar gattoni), sieht der Rumäne nicht.
Bleib im Lande und nähre Dich redlich – heißt meine diesmal etwas spießbürgerliche Moral. Und diese Spießbürgerlichkeit entfremdet mich dem Baskischen. Mea culpa.
Bei Schorlemorle habe ich mich ganz auf Ihren Standpunkt gestellt2 (nicht etwa hebr. schörvachămōr angeführt!), nur den "Trenner", der Urtel-Rez. beanstandet: das b, m trennt nicht (dazu wäre t oder k besser geeignet), sondern im Gegenteil es ist die mühelosest zu erzeugende Konsonantengruppe gewählt, die bei kindischem Lallen am häufigsten ist: ama bama mama....
ek is honger paßt deshalb nicht zu gose naiz, weil dort eine Rudimentalsprache aus aufgeschnappten Brocken auf|6|gebaut wurde. Eine Vertauschung von 'sein' und 'haben' kann nur, sofern in relativ reiner gebauten Sprachen bezeugt, Beweiskraft haben. Ein da hast du mich = da bin ich erkenne ich natürlich an, aber nicht *'da bist du mich' oder *'da hab ich' (im Sinn von 'da bin ich').
Ich hatte doch den Curtius-Brief beigelegt, ich entsinne mich ganz genau. Schade, daß er verloren gegangen ist.
Quel povero Giacomino! Kann man angesichts jenes 2. Terracini-Artikels sagen. Den haben Sie aber doch ganz gewaltig in den Hintergrund gedrückt.
Das Vossler'sche Buch über den Kastraten Balatri trägt deutlich die Spuren seiner ersten Frau. Die zweite ist deutscher. Jetzt hätte er das Buch nicht geschrieben.
Der gute Theo Riegler scheint auf dem besten Wege zur Verbummelung, wenn nicht schon der zeugnismäßigen, so doch der seelischen: wenn ich denke, was alle meine Wiener Universitätskollegen in der Zeit des Studiums gearbeitet haben! Allerdings die jetzige Jugend ist nicht mehr so fleißig wie wir – sie ersetzt Fleiß durch Lebensgenialität und ist uns älteren darin überlegen. Aber ob es sich nicht doch rächt, wenn man kein Handwerk gründlich gelernt hat (siehe Goethe's Klagen über sein Zeichnen)?
Herzlichste Grüße!
Ihr alter
Spitzer
Lassen Sie sich bitte doch durch meine Kritiken nicht beirren. Ich spreche immer nur subjektiv. Schließlich kann man nur aus seinem Ich schöpfen, wenn man den Mitforschern mehr geben will als belanglose Phrasen.
1 Gemeint: Hermann Jacobsohn.
2 Spitzer handelt in dem Artikel "Singen und Sagen - Schorlemorle" (in Zeitschrift für Vergleichende Sprachforschung 54 (1926); ebenfalls in Stilstudien, Bd.1: "Sprachstile", 85-100) vom Thema lautlicher Konstanten in onomatopoetischen Bildungen. Er geht darin u.a. auf einen Artikel Schuchardts zu H.Urtel Zur baskischen Onomatopoesis, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 40 (1919): 397-406, hier 400ff. ein.