Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (411-11166)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

28. 02. 1925

language Deutsch

Schlagwörter: Positivismus (Sprachwissenschaft) Idealismus (Sprachwissenschaft) Kreolsprachen Universität Marburg Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Gamillscheg, Ernst Vossler, Karl Meyer-Lübke, Wilhelm Paris, Gaston Curtius, Ernst Robert Meillet, Antoine Thurneysen, Rudolf Spitzer, Emma Nyrop, Kristoffer Lerch, Eugen Schürr, Friedrich Wagner, Max Leopold Bonn Graz Neapel Spitzer, Leo (1920) Spitzer, Leo (1922) Nyrop, Kristoffer (1899–1930) Lerch, Eugen (1925)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (411-11166). Bonn, 28. 02. 1925. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2267, abgerufen am 30. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2267.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 28. II. 1925.

Verehrter lieber Freund,

Mit aufrichtiger Freude las ich Ihren Brief mit den "ollen Kamellen", die ewig jung sind wie Sie.

Nein, ich glaube aber doch nicht, daß Positivismus und Idealismus nur durch die verschiedenen Operationsgebiete, auf denen sie sich bewegen, sich unterscheiden. Jeder Ismus ist eine geistige Strömung, Neigung, Betontheit. Also betont der Idealismus mehr die Idee, der Positivismus mehr das Material. Natürlich, ohne Material läßt sich keine Idee stützen, aber das Material an sich gibt nicht die Idee, die ist etwas "Charismatisches", wie der "arme L. Jordan" (ist jener Gamillscheg, der gegen ihn "naiv" gekämpft haben soll, nicht vielmehr der "arme" Spitzer?) sich, allerdings gegen diese Ansicht polemisierend, ausdrückt. Ich habe gerade in diesen Tagen, da ich meine Abschiedsreden für die verschiedentlichen Feiern zu konzipieren hatte, über meine eigene Stellung nachgedacht und dabei folgende Worte gesprochen: "Material und Idee sind |2|gleich nötig. Ich verstehe bei einem Professor ebenso wenig die Feindschaft wider den Gedanken wie die gegen das Material, das den Gedanken stützen soll. Man darf ebenso wenig im Materialkram ersticken wie bloß im Gedankennebel schwärmen. Material und Idee gehören zusammen. Eine Flamme kann ich nicht entzünden, ohne Brennmaterial aufzuschichten. Aber ohne den zündenden Funken ist der Holzstoß nichts".

Das dürfte ja so ziemlich auch Ihr Standpunkt sein. (Ich nannte den meinen den eines "stilvollen Realismus" oder "realistischen Idealismus"). Aber ein kleiner Unterschied scheint mir der zu sein: Sie befinden sich gern im juste milieu, ich nicht. Ich fühle mich nur im Extremen wohl, in der Bewegtheit, in der Opposition. Daher übertreibe ich – und natürlich geselle ich mich gern zu den "Geistreichen", während Sie vermutlich mehr den "Soliden" und "Ernsten" sich verwandt fühlen. Das ist ja offenbar, was Sie (und teilweise ich) an Vossler aussetzen. Im gegenwärtigen Augenblick nun, der ein anderer ist als die Kriegssituation, betone ich |3|den Geist. Sie leben nicht wie ich in der Universitätswelt und leiden nicht wie ich an ihrer schwerfälligen Routinierhaftigkeit und Durchschnittlichkeit. Wer wie ich wiederholt gesehen hat, daß unter dem Vorwand des Fehlens "solider philologischer Arbeit" die Genialsten erstickt werden (z.B. Worringer; auch Vossler sagt, er verdanke sein Fortkommen nicht den Fachgenossen: "Romanisten hätten mich nie berufen"), der bekommt eine Wut gegen jene Popo-Präponderanz (Verzeihung!), die sich auf den Kathedern breitmacht. Also nicht Kopf gegen Fuß, wie Sie sagen, sondern P... gegen Kopf. Man sieht mir an wie jenem Molière'schen Apotheker que je n'ai pas à faire avec des visages.

Daß der Kreolendialekt von einem Positivisten und einem Idealisten anders behandelt würde, glaube ich doch. Sehen Sie meinen ' Hunger' – ein Kriegs-Kreolisch –, das Werk eines Idealisten! Wie hätte Gamillscheg oder Meyer-Lübke das angepackt. Und hätten die das überhaupt behandelt? Sehr hübsch scheidet jetzt Lorck die bisherigen Grammatiker von den |4|Sprachseelenforschern. M-L sagt in seinen Vorlesungen oft: "Ich bin Grammatiker, nicht Philosoph", das ist der Positivistenstandpunkt – als ob die Grammatik nicht eine philosophische Leistung wäre! Das wäre also so wie wenn einer sagte: "Ich bin Elektriker – ich kann Ihre Klingel Ihnen reparieren – aber wieso ich das kann, weiß ich nicht, denn ich weiß nicht, was das ist: Elektrizität."

Daß ich Sie selbstverständlich zu den Idealisten rechne, ist klar. Ihre lange Lebensdauer ist ein großes Glück für die Sprachforschung. Sie haben den philosophischen Duktus der Humboldt-Zeit in sich aufgenommen und bis heute erhalten können. Hätten Sie, Gott behüte, nur das Alter eines G. Paris erreicht, so hätte Vossler aus dem Nichts schöpfen müssen.

Daß Vossler anderseits mit dem Material etwas husarenmäßig umgeht, darüber sind wir uns ja seit langem einig.

Natürlich, Ihr "aphoristisches" Wesen bezieht sich nur auf die etwas fragmentarische, gelegenheitliche Darbietung, nicht auf das "Gedankengebäude", dessen Solidität ja das Brevier erweisen sollte.

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Mein Etymologicum hat mir interessante Zuschriften gebracht. Ich lege mit der Bitte um Retournierung ein kurzes Schreiben Curtius' bei, das mir wirklich Freude gemacht hat. Das ist nun wirklich ein lieber Mensch, ein lieber Mensch, der, als Literaturforscher, nicht nur wie die materialistischen Sprachforscher, nach der Leistung, sondern nach den Motiven des Schaffens fragt und sie fein herausspürt –  das Idealistische einer anti- oder un-Meyer-Lübkeschen Geistesrichtung.

Meillet dagegen äußert sich etwas skeptisch – es gebe doch auch sichere Etymologien in den alten Sprachen (was ich nicht leugne) – ich riet ihm, den Artikel mulier bei Walde durchzulesen.... zu mollis oder μυδάω 'bin feucht, faul' usw. – das ist wissenschaftliche Etymologie! Die Franzosen, Meillet dieser Humorlose und Trockene, an der Spitze, sitzen heute alle auf einem toten Ast, dem des Rationalismus.

Ich habe für die Thomas-Festschrift einen deutschgeschriebenen Beitrag eingesandt. Natürlich erhielt ich ihn mit der Bitte um französische Redaktion zurück, worauf ich den Artikel |6|zurückzog und einige deutliche Worte über den Gegensatz des Romania-Prinzips (Frz. Engl. zugelassen, Deutsch nicht) und des bei deutschen Ztschr. üblichen (alle Sprachen!) sprach.

Ich bin nun hier gründlich "weggefeiert" worden. Eine Studentenfeier, ein Studentenausflug, eine Professorenfeier. Redner u.a.: Walzel, Meissner, Thurneysen, der katholische Philosoph Dyroff, der Zahnprofessor (!) Kantorowicz (gleichzeitig sozialistischer Stadtverordneter), Worringer usw. Mein, meines Empi und meines Pückchen Bild wurde vielmals gezeichnet: Empi als Tizianschönheit und ideale Mutter und Gattin, auch Kuchenbäckerin gefeiert. Ich als gemütvoller Romantiker, geistreicher Lehrer (?), bescheiden zurückhaltender Mensch, ein Freund kein bloßer Kollege. Letztere zwei Attribute haben mich am meisten gefreut. Ich selbst antwortete bald ernst bald mit pörtschachhafter Ausgelassenheit. Tatsächlich fühlte ich mich sehr wohl bei diesen Feiern, nicht aus Eitelkeit, sondern aus dem Gefühl heraus, daß ich nun doch mir inmitten des deutschen Vaterlandes mein Plätzchen im Herzen der Menschen |7|erobert habe und daß alles Gerede von der Fremdartigkeit des Juden beim Einzelnen nicht gelten muß. Tatsächlich glaube ich, daß ich in Bonn heute nicht als Fremder gelte, sondern als "ein Unsriger". Und das ist mein Stolz. Wobei ich nicht vergesse, was ich meiner Frau verdanke – aber nicht so sehr gesellschaftlich als innerlich. Sie hat eben die inneren Brücken zum Deutschtum gebaut. Ich schreibe das zur Widerlegung Ihres einstigen Standpunktes: die Schule ist ein Politikum, der Jude ist anders, also müsse ich damit rechnen, aus Gründen, die ich nicht ändern könne, nicht weiterzukommen. Heute fragt kein Mensch in Bonn nach derlei Unterschieden. Der Ordinarius hat den Juden zugedeckt – wie Noa schamhaft von seinem Sohne zugedeckt wurde. Such is life.

Daß die M.-L's nicht eingeladen wurden, ist selbstverständlich.

Nyrop sendet mir nun die Abzüge seiner Syntax, die ich korrigiere.1 Leider bleibt er ganz beim Formalen stehen.

Lerch's Aufsatz über Ober- u. Unterschicht habe ich glänzend gefunden.2 Wir sind uns auch wieder persönlich nähergekommen. Nur an die abschüssige Rutschbahn der automatischen Lautentwicklung glaube ich nicht.

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Schürr ist untröstlich über den Hohn der Honorardozentur, die man ihm in Graz angeboten hat, und geberdet sich wie ein Wahnsinniger. Da sehe ich, wie mäßig ich war, da ich doch bei bedeutend zahlreicheren Leistungen nach 12 Jahren Priv.-Doz. weniger anspruchsvoll war als Schürr mit 5 Jahren. Es stiert ihn wohl, daß ich nach Mbg., aber auch daß Gamillscheg nach Berlin kommt – anstatt des wirklich armen M.L.Wagner, der nun sang- und klanglos in Neapel auftaucht.

Noch etwas: Sie wenden sich immer gegen das Etikettieren. Ich werde nicht müde werden, Ihnen dann zu widersprechen, wenn Sie unter dieser Etikette "Etikettieren" jede charakterisierende, literarisch einordnende Tätigkeit dem Linguisten verwehren wollen, wo doch jedem Literarhistoriker dasselbe erlaubt ist und der an der Entwicklung der Sprachwissenschaft teilhabende Gelehrte doch gleichzeitig sie beurteilen, werten, charakterisieren muß, soll er nicht als schwankes Rohr im Winde der Meinungen der Fachgelehrten dastehen. Nun aber genug! Schonung Ihren geplagten Augen!

Schreiben Sie bald was Sie noch auf dem Herzen haben Ihrem ergebenen

Spitzer


1 1925 erscheint der letzte der 6-bändigen Grammaire historique de la langue française von Kristoffer Nyrop.

2 Eugen Lerch, "Über das sprachliche Verhältnis von Ober- zu Unterschicht mit bes. Berücksichtigung der Lautgesetzfrage", in: Jahrbuch für Philologie I (1925): 70-124.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11166)