Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (409-11164)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

23. 01. 1925

language Deutsch

Schlagwörter: Archivum Romanicum Universität Heidelberg Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Hugo-Schuchardt-Brevier Thomas, Antoine Meyer-Lübke, Wilhelm Iordan, Iorgu Gilliéron, Jules Meillet, Antoine Bréal, Michel Paris, Gaston Urtel, Hermann Spitzer, Emma Vossler, Karl Curtius, Ernst Robert Schürr, Friedrich Wagner, Max Leopold Gamillscheg, Ernst Paris

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (409-11164). Bonn, 23. 01. 1925. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2265, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2265.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 23. I. 1925

Verehrter lieber Freund,

Wie leid tut mir Ihr Zustand – und daß man so in der Ferne eigentlich durch Teilnahmsbezeigungen nur ermüdet, da Sie durch Lesen neuerdings sich anstrengen müssen. Ihren herrlichen 1. Bogen der neuen Abhandlung – diese Konzentration im Ausdruck! Da rede man noch von "seniler" Breite bei Ihren Altersgenossen! – habe ich nach meinem Gutdünken korrigiert u. zurückgesandt, da ich annehme, daß Sie eine Kontrolle wünschten.

Ich werde natürlich einen deutsch geschriebenen Beitrag für die Mélanges Thomas einsenden. Wenngleich ich Thomas nicht besonders feiern möchte, so doch die wiedererwachende Arbeitsgemeinschaft der beiden Völker. – Sie haben immerhin an der Meyer-Lübke-Festschrift unwillentlich und willentlich an der für Seiffert teilgenommen. |2|An meinem Archivum rom.-Artikel dürfte Sie auch Schluß und Anfang des Artikels facere als Hauch aus Ihrer Geisteswelt berühren. L. Jordan meint nun allerdings, Ratio sei Vernunft, nicht Verstand, aber die Vernunftbetonung geht leicht ins Vernünftelnde über, also ins Verstandes-Trockene. Ich bleibe Romantiker.

Der andere, der I. Iordan, mein Schüler, hört jetzt in Paris und ich genieße in seinen Briefen die Spiegelung alter Erlebnisse in einem jüngeren Menschen. Es scheint doch, daß die Pariser, von Gilliéron abgesehen, mit Wasser kochen. Sie haben die oberflächlichen Bemerkungen Meillets übrigens gut durchleuchtet. Was hat es für einen Sinn, die schwierigsten Probleme mit ein paar "paroles obligeantes et insignifiantes" abzutun? Es fällt mir überhaupt auf, daß das zentralisierte Frankreich sich gern unter die Autorität eines Einzigen, eines pater litterarum begibt: Bréal, G. Paris, jetzt Meillet. Das sind meist versatile, vielseitige, elegante |3|Geister – von den Genannten scheint mir Bréal noch der tiefste.

Doch, ich habe einen wertenden Superlativ ausgesprochen, und ich soll ja nicht "etikettieren"! Sie irren, wenn Sie glauben, ich hätte Sie in Ihrer stillen Zeit mißkannt. Ich urteile nach der Qualität des Geäußerten. Und darin verurtele ich ich den Urtel. Schwärmerei? Nein! Meine Frau sagt hierauf spontan: "gemachte Schwärmerei". Verbindliche Phrasen, dabei mit einem Hintergrund von Diplomatie. Z.B.: Intimitäten über das eheliche Leben mit seiner – damals kurz verstorbenen – Frau, die kein Mann von Geschmack äußert; sentimentale Komplimente; heimliche Bitte an Mitgäste, nächstes Jahr die Wiedereinladung bei mir zu bewirken; Geiz-Züge usw. Bitte, lauter Beobachtetes und zwar von einer 10köpfigen Gesellschaft Beobachtetes. Geist verlange ich nicht, aber Echtheit, Wahrheit!! |4|Die Variabilität meiner Urteile ist nicht groß – nur die meiner Gefühle. Sie können mir ein Beispiel in dieser Beziehung vorhalten: Vossler. Ich sehe heute dieselben Fehler wie früher, aber diese Züge ordnen sich einem Wohlwollen unter, das eben die sieghafte und große Persönlichkeit im täglichen Verkehr hervorbrachte. Ein solches zwangloses Sommernebeneinander bringt allen Gehalt aus den Persönlichkeiten heraus, da läßt sich nichts verheimlichen und vertuschen.

Ich habe die "Variabilität" auch meiner Empfindungen nie auf Sie ausgedehnt, sondern nur dann offen meine Ansicht gesagt, wenn Sie mir zu "fatalistisch" zu sein schienen. Sehe ich, wie selbstverständlich es jetzt jedermann ist, daß ich den kleinen Marburger "Papst"-Stuhl erklomm, so denke ich unwillkürlich, wie wenig selbstverständlich der Glaube an die Unerreichbarkeit dieser Stufe früher war. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen herzlich noch danken dafür, daß

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[oberer Teil des Blattes fehlt]

In diesen Tagen war Curtius hier. Er zeigte eine so reine Freunde am Gelingen des Hindernisrennens, die mich wirklich gerührt hat. Daß dieser Mann, ohne mit mir befreundet gewesen zu sein, als Literat den Sprachwissenschaftler, als katholizisierender Protestant den Juden vorschlug, wird mir stets ein Grund zum Stolz sein. Die Kombination Neumann war ja eine andere: Olschki sollte das Ordinariat, Schürr das Extraord. in Heidelberg bekommen und jetzt verstehe ich Ihre damals von mir nicht recht verstandene Äußerung, Sie wollten Schürr nicht "in den Weg treten". Ja, des einen Leid des anderen Freud – und umgekehrt.

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[oberer Teil des Blattes fehlt]

M.L.Wagner soll wegen homosexueller Delikte entgiltig in Berlin abgesägt worden sein. Schrecklich! Die Stelle wird neu besetzt. Es sollen Gamillscheg und Krüger in Betracht kommen. – Ich habe kein Talent zum Papst. Der Papst ist unfehlbar und ich sehe stets Fehler an mir, so daß ich oft, an mir selbst verzweifelnd, meinen Gegnern recht­gab, vielleicht mehr als notwendig.

Die spanische versión des Schuch.-Brev. (das ich doch als hapax betrachtet wissen möchte – sollen wir etwa ein M-L. ein Meillet-Brevier bekommen?) ist bis auf 200 Seiten gediehen und von Montesinos korrigiert worden.

Der letzte "Logos"-Aufsatz Vosslers ist sehr schön, nicht nur schön ausgedrückt wie immer, sondern gut gedacht.

Herzliche Wünsche von Ihrem alten

Spitzer

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11164)