Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (400-11155)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

07. 09. 1924

language Deutsch

Schlagwörter: Völkerbund Vossler, Karl Vossler, Emma Lerch, Eugen Schürr, Friedrich Hahn, Hans Richter, Elise Küchler, Walther Ettmayer, Karl von Riegler, Theodor Riegler, Hermann Zauner, Adolf Seuffert, Bernhard Riegler, Richard Meyer-Lübke, Wilhelm Pușcariu, Sextil München Wien Bonn

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (400-11155). Pörtschach, 07. 09. 1924. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2246, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2246.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach, 7. Sept. 1924

Verehrter lieber Freund,

Ich meine eben, daß Vosslers Seelenhaltung eine klassische [ist] und seine Schriftstellerei im Gegensatz zu ihr steht, eine Reaktion, Selbstaufforderung oder dgl. So erklärt sich, daß der Leser zwar gelegentlich den Eindruck des Launenhaften von der Produktion, nicht aber der Beobachter vom Produzenten bekommt. Ich will also nicht zugeben, daß ich mich "geirrt" hätte. Meine Einwände habe ich rückhaltlos vorgebracht und ich freue mich vor allem, kein sacrifizio dell'intelletto notwendig gehabt zu haben, um mir V.'s Neigung zu erkämpfen. Gern gestehe ich, daß ich s.g. Mächtigen gegenüber an nichts mehr leide als die Integrität meiner Persönlichkeit zu bewahren. Es ist mir jetzt eine Genugtuung, daß Frau Vossler in einem langen und herrlich formvollendeten Dankbrief schreibt: "Sie wissen ja, daß mir bei Ihnen noch ein anderer großer Wunsch in Erfüllung gegangen ist, daß mein Mann sich einmal |2|richtig aussprechen konnte u. gerade mit einem Kollegen, der jünger ist und kein 'Wachsabdruck'. Ich weiß auch, daß ihm nicht nur das gut getan hat, sondern daß er Sie richtig lieb gewonnen hat. Und weil ihm das sonst nicht leicht geschieht, freut es mich doppelt." Der 'Wachsabdruck' ist der sklavische Lerch, über dessen Charakter V. sich keine Illusionen macht.

Sie erwähnen in Ihrem Brief auch die "äußere" Seite dieser Beziehung. Ich habe auch in dieser Hinsicht nicht den geringsten Zweifel übrig gelassen, daß ich nach den früheren Vorkommnissen und angesichts der Münchner Verhältnisse für mich selbst von V. nichts erwarte. Als V. einmal sagte: "Wenn Lerch von München wegkommt, so kann der Spitzer Gift darauf nehmen, daß er hin­kommt", antwortete ich schlagfertig: "So kann Schürr Gift darauf nehmen". Und tatsächlich ist mir auch der Gedanke widerlich, durch ein Sommerzusammensein für Berufschancen vorgearbeitet zu haben.

Daß Wien für mich kein Boden mehr wäre, ist mir aus den Äußerungen Hahn's, Richter's, Küchler's ganz klar. Hat man doch die Dekanwahl des aus altem deutschen |3|Geschlecht stammenden Arnim hintertrieben, weil er ein paarmal liberal abgestimmt – und einen Juden zum Schwiegersohn hat. El. Richter bezieht eine minimale Remuneration (750.000 K monatlich) und es scheint, daß weder Herr Ettm. noch Küchler Lust oder Macht haben, das zu ändern.

Schürr hat mich nun auch besucht. Sein wesentliches Leiden ist – die Frauenlosigkeit. Unfähig ewige Treue Einem Wesen anzugeloben und unfähig ohne eine Frau zu leben, martert er sich. Gewiß eine traurige Situation, die wohl jeder Mann durchmachen muß. Auch über seine Carriere scheint er etwas pessimistisch zu sein, obwohl ich ihm vorstellte, daß er, wenn ich einmal versorgt sei, und vielleicht auch schon vorher, keine Konkurrenten habe.

Theo macht mir trotz allem Sorgen. Sein Bruder bezeugt und er selbst gesteht, daß er in den ersten 2 Semestern wohl kaum Vorlesungen besucht habe, sondern mit Frauen herumgezogen sei. Die Entschuldigung, Zauners und Seufferts Vorlesungen hätten ihn nicht gereizt, begegnete ich mit dem |4|Einwurf, daß er auch keine Bücher über die betr. Gegenstände gelesen habe. So sehr ich für den Lebensgenuß bin – ich bedauere ja, daß ich bis zum 28. Jahr nichts erlebt habe –, so muß er doch irgendwelchen Bildungstendenzen untergeordnet sein. Ein Bohèmeleben und ein Nur-Bohème-Leben ist mir nicht sehr sympathisch. Ich habe natürlich in diesem Sinn gepredigt. Übrigens hatte Papa R. mir das Konzept dadurch verdorben, daß er aus Graz einen Katalog (buchstäblich!) mit einem Sündenregister Theos (Verfehlungen bei den Verwandten, bei denen er wohnt, eine Schuld von 250.000 K etc.) mitbrachte u. strafend hervorzog, was natürlich auf Theo mehr lächerlich als ernst gewirkt hat.

Ich verstehe die M-L'sche Arbeitsweise nicht mehr. Das eslata kam mir gleich sehr fraglich vor. Nun haben Sie es ja erklärt und sollten das publizieren.

Puşcariu schrieb mir, er wolle mich Anfang Oktober in Bonn auf der Rückkehr von der Genfer Völkerbundtagung besuchen. Ich werde ihn also nicht treffen.

Wir sind nun ganz allein und haben Zeit, uns in uns zu vertiefen, den Sommererinnerungen nachzuträumen und der herbstlichen Blattvergilbung gleich einer Vergilbung der Erlebnisse beizuwohnen. Hoffentlich sind Sie bald von Wettereinflüssen frei und können wieder frei schaffen.

Alles Liebe vom

Spitzer

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11155)