Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (399-11154)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
03. 09. 1924
Deutsch
Schlagwörter: Universität Wien Universität Marburg Revista Internacional de los Estudios Vascos Vossler, Karl Körner, Joseph Vossler, Emma Küchler, Walther Richter, Elise Richter, Helene Hahn, Hans Ettmayer, Karl von Urquijo Ybarra, Julio de Sizilien
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (399-11154). Pörtschach, 03. 09. 1924. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2245, abgerufen am 10. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2245.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Pörtschach, 3. Sept. 1924.
Hochverehrter lieber Freund,
Ich weiß nicht, wer wem was schuldig ist, aber da ich über einige neue Eindrücke verfüge, so mache ich gewohnheitsgemäß aus meinem Herzen keine Mördergrube und schreibe in Erwartung einer kleinen Gegenleistung.
Vossler's sind weg und damit ist eine gewisse Leere bei uns eingetreten. Auch innerlich. Ich gestehe gern, daß meine Gefühle für Vossler geradezu schwärmerische geworden sind. Sie werden über diese Wandlung lächeln, wenn Sie an meine winterlichen Auslassungen denken. Nun, ich gestehe weiter, daß ich stets alle Menschen vom Herzen aus beurteilt habe und daß V. mich eben vom Herzen aus erobert hat. Seine Schriften erscheinen mir heute wie ziemlich launische Ablösungen aus einem innerlich beweglichen Kern. Er ist in seinem Innern eine gemütvolle, joviale, vor allem eine "klassische" Natur. Romantik und Sentimentalität ist ihm zuwider, daher seine oft dogmatische Ablehnung |2|solcher Tendenzen in Leben, Kunst und Wissenschaft. Er versteht Hebbel nicht. Dafür sind ihm alle romanischen Klassiker nahe. Ein merkwürdiger Fall, daß ein deutscher Romanist mehr Romanist als Deutscher ist. Anderseits ist wieder seine Ablehnung französischen Wesens bemerkenswert – es scheint mir als ob er das Geistreiche, das er an sich selbst hat, bei einem ganzen Volks nicht recht vertragen könnte.
Schön ist an Vossler seine innere Sonnigkeit und Heiterkeit, seine Weltüberlegenheit und Überwindung tragischer Konflikte, die bei ihm immer unterirdisch zu grollen scheinen. Wir haben oft "Themen" behandelt, indem jeder in boccaccesker Art eine Erzählung oder Darlegung geben mußte ("Die erste Liebe" "die erste Enttäuschung", "die Wunschliebe", "Das Wiedersehen in Leonstein" usw.): immer wieder kam z.B. Körners romantische, Vossler's klassische Art, meine idealistisch-phantastische usw. zum Vorschein.
Ich will nicht verschweigen, daß auch die Damen Vossler (Gattin + 2 Schwägerinnen) mich sehr gefesselt haben. Es ist doch etwas Schönes, wenn man nach der Gebundenheit an das eigene, wenn auch noch so liebe Heim unter den Palmen phantasievoller |3|und teilweise exotischer Frauen wandeln kann. Ich empfinde ja das Mannesalter mit seinen Enttäuschungen, mit seiner Ersetzung, des Unendlichkeitsstrebens durch eine Endlichkeit (des Wollens, des Könnens usw.) als ein unpoetisches Alter und bin dankbar jedem Menschen, der mich aus der Endlichkeit hinaushebt und mir vage Horizonte zeigt, mich von der Bürgerlichkeit erlöst. Traurig ist dann nur der Moment, wo man sich dessen bewußt wird, daß man nicht im Nirgendwo schwebt, sondern im Bestimmten verankert ist. Die Vossler-Frauen sind gerade solche Wesen, die eher im Renaissance-Italien oder in Spanien als im abderitischen Deutschland zu Hause sind.
Ich schrieb wohl schon, wie armselig Küchler und seine Familie sich gegen Vosslers ausnahm und wie sieg- und geistreich sich Körner behauptete. Als Küchler ging, sprach Frau Vossler das Wort: "In Wirklichkeit gehörte Spitzer nach Wien und Küchler nach Marburg", das ich nur zitiere, um das Bittere herauszuheben, das darin liegt, daß Menschen bis an die höchsten Stellen avancieren, bloß weil sie "da sind".
|4|Die beiden Richter- Tanten sind unverändert, humorvoll und innerlich ausgeglichen. Hahn kam auf der Rückfahrt von Sizilien vorbei. Alle Wiener berichten übereinstimmend von den Tollheiten Ettmayers. Wie ist es übrigens gekommen, daß dieser dennoch zum korresp. Mitglied der Wiener Akademie wurde?
Urquijo hat mir sehr freundlich geschrieben und die Sendung des REB angekündigt sowie mich zur Mitarbeit aufgefordert. Herzlichen Dank für die Vermittlung.
Bekomme ich kein Sep. des "Kreisels"?
Ich berichte nun noch einiges Äußerliche. Vossler, der mir das Du-Wort angetragen hat, will nun auch noch, obwohl er schon einmal an Richter, den Personalreferenten in Berlin, berichten mußte, meinetwegen schreiben und "das Menschliche" ins Licht setzen. Ebenso will der Mbger. Anglist Deutschbein nach Küchlers Ablehnung eine agitatorische Tätigkeit für mich entfalten.
Von meinem Aufsatz für die Walzel-Festschrift über Peguy's Stil habe ich die 1. Korrektur erhalten. Nach Körner's Urteil ist er methodisch ergiebiger als der Romains. Körner meint, ich hätte im Leben wie im Schaffen eine Tendenz "alles sagen zu wollen". Sehr richtig! Vossler regt übrigens an, ich solle meine stilistischen Studien zu einem Band "Sprache u. Stil" oder "Sprachstile im neueren Frankreich" od. dgl. vereinigen. Was meinen Sie?
Herzlichste Grüße von Ihrem ergebenen
Spitzer