Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (398-11153)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

12. 08. 1924

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Marburg Vossler, Karl Lerch, Eugen Vossler, Emma Vossler, Ester Küchler, Walther Curtius, Ernst Robert Spitzer, Wolfgang Urquijo Ybarra, Julio de Meyer-Lübke, Wilhelm Umbrien Spitzer, Leo (1927)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (398-11153). Pörtschach, 12. 08. 1924. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2244, abgerufen am 02. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2244.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach, 12. VIII.

Lieber verehrter Freund,

Also, Vosslers sind da und ich muß sagen, ich bin mit allem sehr zufrieden, Geistigem u. Ungeistigem. Vossler selbst hat eine so humorvoll vornehme, weltmännisch heitere Jovialität und Unsteifheit im alltäglichen Verkehr, eine so nette Art, Kritik entgegenzunehmen und zu üben, daß man ihm manche literarische Escapade schnell verzeiht – wenn man wie ich vor Bedeutung die Waffen streckt und vor allem wenn man seine Meinung rundweg herausgesagt hat. Besonders über die Charakterzüge des Herrn Lerch konnten wir uns beide leicht einigen. Man sieht gern in dies schöne Menschenantlitz, das mit verschlafener |2|Ruhe entzückend pointieren kann.

Die Damen Vossler sind sehr interessant, besonders eine komplizierte Schwäge­rin, die einen großen Lebensroman durchlebt hat. Frau Vossler No. 2 kann mit der Frau No. 1 in italienischer Grazie und Überlegenheit nicht wetteifern und vielleicht ist sie es, die den Gatten aus dem übernationalen ins nationale Lager hinüberzieht, aber sie scheint ihren Mann leidenschaftlich mit der Inbrunst eines zweiten Lebensbundes – auch sie war schon einmal verheiratet – zu lieben. Sie eroberte ihn, während Frau Ester wohl "über" den Dingen stand.

Am 18. treffen Küchler's (4 Personen) für paar Tage auf der Durchreise nach Umbrien bei uns ein. "Er" teilte mir mit, daß er Mbg. ablehnen werde. Die preuß. Regierung scheint ihm Kolossales geboten zu haben – sie läßt |3|sich die Vermeidung meiner Person viel kosten.

Curtius ist nun nach Pontigny (Yonne) zu André Gide geladen, wo die Gelehrten verschiedenster Nationalitäten eine Art übernationalen Zirkels realisieren.

Ich habe schon mehrmals angedeutet, daß ich keine Versuchung spüre, aus unserer Kinderstube in wissenschaftlichen Sprechsälen zu plaudern, obwohl gerade unser Bub ein köstlicher Sprachschöpfer ist (übrigens auch ein guter Sprachbeobachter: er äfft den hiesigen Aussprachen wie Duast für 'Durst' nach). Mehr als die Kinder- scheint mir die Muttersprache der Erforschung zu bedürfen.1

Rodriguez Marín scheint mir bedeutender als […] Archivar denn als Sprachwissenschaftler, daher die Leute wie Castro ihm nicht ganz Gerechtigkeit widerfahren lassen.

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Wieso ich Ihnen nicht von Urquijo's Bonner Ehrendoktorat geschrieben habe?2 Weil ich mit M-L nicht spreche und daher auch nichts von ihm höre.

Dank für Ihre Verwendung bei U. für mich. – Hat Sie L. Jordan's "Denkfehler" irgendwie an- und aufgeregt? Ich arbeite jetzt nichts und bin wohl zu wissenschaftlichen Detailarbeiten im Augenblick nicht fähig.

Nehmen Sie von uns allen, Vosslers miteingeschlossen, die allerherzlichsten Grüße entgegen
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Herzlichst

Spitzer


1 Spitzer sammelt über die Jahre hinweg Belege aus der Interaktion zwischen seiner Frau und seinem Sohn. Er veröffentlicht 1927 die stark unter psychoanalytischem Einfluß stehende StudiePuxi. Eine kleine Studie zur Sprache einer Mutter. (Hueber, München). Puxi war der Kosename seines Sohnes Wolfgang, der diesem bis heute erhalten geblieben ist.

2 Urquijo teilt Schuchardt in einem Brief vom 31. Juli die Verleihung des Dr.h.c. in Bonn mit.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11153)