Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (395-11150)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

17. 07. 1924

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Freiburg (Schweiz) Universität Marburg Universität Bonn Universität Breslau Archivum Romanicum Universität Wien Universität Graz Küchler, Walther Meyer-Lübke, Wilhelm Curtius, Ernst Robert Körner, Joseph Griera y Gaja, Antonio Riegler, Theodor Riegler, Richard Meringer, Rudolf Vossler, Karl Hahn, Hans Wien Sizilien Sperber, Hans/Spitzer, Leo (1918) Spitzer, Leo (1918) Amoretti, Giovanni Vittorio (Hrsg.) (1923) Spitzer, Leo (1924) Spitzer, Leo (1928) Spitzer, Leo (1928) Schuchardt, Hugo (1923) Griera, Antonio (1923)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (395-11150). Bonn, 17. 07. 1924. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2241, abgerufen am 30. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2241.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 17. VII. 1924

Verehrter lieber Freund,

Dank für Karte und Brief. An dem Romainsismus des Romanisten wäre mir vor allem wichtig zu wissen, ob Sie die Methode ('Motiv u. Wort')1 für fruchtbar halten.

Meine Aussichten! Küchler wird – bitte aber diskret, da ich es nur ganz "mit dem Siegel..." erfuhr – nicht annehmen, wie ja auch zu erwarten war. Das Ministerium wird sich dann an Heiss in Freiburg wenden, der ablehnt – dann, ja dann ist die große Frage: wird es die Kraft aufbringen, mich beiseite zu schieben und eine der hinter mir "in weitem Abstand" genannte Null zu nehmen? Wahrscheinlich!

Mißlingt die Marburger Sache, so ist natürlich meine Anwartschaft in Bonn umso größer, besonders wenn M-L schon in 2 Jahren abgehen müßte, was |2|allerdings nur dann der Fall sein wird, wenn hier politisch normale Verhältnisse herrschen wie im unbesetzten Gebiet. Auch Appel-Breslau muß nächstes Jahr gehen, der sehr gut über mich in Marburg referiert hat – aber ob er mich dort durchsetzt ?????

Hier hat sich neulich Köstliches abgespielt. M-L wollte seinen besonderen Protégé, den italienischen Lektor Amoretti, den er gegen Curtius und mich auszuspielen pflegt, einen ganz gescheiten, aber wahnsinnig eingebildeten (auf sich wie Italien), wissenschaftlich belanglosen Menschen, der eine miserable, schlampige Schlegel-Ausgabe2 veranstaltet hatte, für vergl. Literaturgesch. habilitieren. Die Fakultät durchschaute auch die Protektionswirtschaft u. ich vermittelte auf Auftrag ein Gutachten des Schlegel-Kenners Körner, das die Schlamperei und philologische Ohnmacht Amoretti's so lächerlich klar legte, daß M-L den Antrag zurückziehen mußte. Über diese Blamage ist er natürlich wutentbrannt, vor allem deshalb, weil er in mir den geistigen Urheber wittert. Er klagte, er habe keinen Freund in Bonn, alle verschwüren sich gegen ihn usw. Das ist tragisch und doch – tu l'as voulu, Georges Dandin. Natürlich steckt auch hier hinter Protektion wie Wut "la femme".

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Der Aufsatz über "Denkfehler" bei der Lautgesetzbekämpfung stammt von Leo Jordan, der seit neuester Zeit propheten- und richterhafte Posen annimmt und vor allem Vossler totschlagen möchte. Nun, er wird mit seinem Rationalismus nicht aufkommen. Seine nur-verstandesmäßige Sprachbetrachtung in seinem Aufsatz der Weberfestschrift bekämpfe ich in einem Aufsatz, den ich dem Arch. rom. einreiche, betitelt: "Zur Bewertung des 'Schöpferischen' in der Sprache",3 in dem ich mich auch mit M-Ls Auseinandersetzung, vor allem über das angeblich Unschöpferische in der 'Reproduktion' eines trouver der Fischer durch die Gemeinsprache auseinandersetze.

Von Griera zuletzt gehört, daß eine Nummer (mit Ihrem Aufsatz) des Butlletí vor der Veröffentlichung stehe4 u. ebenso der 2. Band des Atlas.

Der genialische Theo schrieb mir nun ausführlich. Er habe beschlossen, im  4. Semester nach Wien zu gehen. Das möchte ich gern unterstützen, aber da wird der Alte, sittlich besorgt, ein rocher de bronze sein – es wäre gut (vorläufig weiß der Vater noch nichts davon), dies zu unterstützen. In Graz hat man auf die Liste für neuere dtsch. Literatur |4|als aussichtsreichsten Bewerber den Privatdozenten Polheim gebracht, der nach allen Urteilen eine lokale – Null sein soll, so daß für Theo doch nichts herauskommt. Für ihn wäre Walzel (den Meringer übrigens nach Graz bringen wollte) der richtige Lehrer. Sonst berichtet Theo noch sehr ausführlich über den Besuch bei Ihnen – und über den bei Hahn's in Wien, wo die kleine Nora sein Herz erobert zu haben scheint, während der Vater über jene Wiener Reise wettert!

Am 26. Juli reise ich nach Pörtschach, am 6. August kommen Vosslers, am 12. Körner, am 31. Hahns (auf der Rückreise von Sizilien). Obwohl unsere Sorgen größer sind als je in meinem Leben, gedenke ich sie vollkommen im Sommer zurückzudrängen und meinem von Natur aus frohen Temperament, an dem meine lieben Mitmenschen so schwer gesündigt, die Zügel schießen zu lassen. Bis zum Herbst wenigstens sind wir ja durch Vermieten materiell gesichert. Dann?

Bei zurriaga scheint mir (wie M-L) nur das Suffix Schwierigkeit zu machen.

"Der Ausgang der Mbger Sache hat mich nicht überrascht, aber indigniert" – gerade das erstere ist das Auffällige, daß Männer der Wissenschaft sich so leicht mit Unwissenschaftlichem befreunden.

Nehmen Sie beste Wünsche für Ihre Gesundheit und ergebenste Grüße!

Spitzer


1 Die Gemeinschaftspublikation mit Hans Sperber, in der Spitzer "Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Christian Morgensterns" veröffentlichte; Reisland: Leipzig 1918.

2 Giovanni Vittorio Amoretti brachte 1923 eine zweibändige Ausgabe der Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur von August Wilhelm von Schlegel heraus (Bonn und Leipzig: Schröder).

3 L.S., "Zur Bewertung des 'Schöpferischen' in der Sprache", in: Archivum Romanicum 8 (1924): 349-385. Spitzer nimmt den ersten Abschnitt des Aufsatzes in die Stilstudien auf: "Romanisch *facit 'er sagt' (Zur Bewertung des 'Schöpferischen' in der Sprache", Bd.1: "Sprachstile", 223-257; somit fehlt nur der zweite Abschnitt zu "wallon. savoir 'pouvoir'").

4 H.S., "Hugo Schuchardt an A. Griera", in: Butlletí de dialectologia catalana 11 (1923): 109-118; zum katalanischen Sprachatlas Grieras.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11150)