Carolina Michaëlis de Vasconcelos an Hugo Schuchardt (12-7319)
von Carolina Michaëlis de Vasconcelos
an Hugo Schuchardt
06. 07. 1880
Deutsch
Schlagwörter: Literaturstudien Editionsphilologie Bibliotheken und Bibliothekswesen Publikationsversand Buch- und Verlagsgeschichte Max Niemeyer Verlag Publikationswesen A Renascença O Ocidente: revista ilustrada de Portugal e do estrangeiro Politik- und Zeitgeschichte Camões-Gesellschaft Mitgliedschaft Viuva Bertrand & Co Bittschreiben Konversion Sociedade Camões Literaturempfehlung Portugiesischsprachige Literatur Portugiesisch Braga, Teófilo Geppert, Carl Eduard Portugal Porto Spanien Braga, Theophilo (1870–1871) Braga, Theophilo (1870) Braga, Theophilo (1871) Braga, Theophilo (1873–1875) Braga, Theophilo (1872) Schuchardt, Hugo (1866) Braga, Theophilo (1880) Rattazzi, Marie-Letizia (1881) Neves e Mello, Adelino Antonio das (1872)
Zitiervorschlag: Carolina Michaëlis de Vasconcelos an Hugo Schuchardt (12-7319). Porto, 06. 07. 1880. Hrsg. von Bernhard Hurch (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.224, abgerufen am 25. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.224.
Printedition: Hurch, Bernhard (2009): "In der Phäakenluft von Graz bin ich erst recht faul geworden." Der Briefwechsel von Caroline Michaëlis de Vasconcellos und Hugo Schuchardt. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 72., S. 19-111.
Porto 6 ten Juli 80
Sehr geehrter Herr,
seit ich Ihnen auf einer Postkarte kurz den Empfang Ihres Briefes vom 4ten Juni, sowie Ihres Festgrußes angezeigt, habe ich ein zweites Schreiben von Ihnen (23/6) erhalten so daß ich nun somit Ihre beiden freundlichen Sendungen beantworte, herzlich dankend.
Könnte ich alle Ihre Fragen mündlich beantworten, so würde ich es vielleicht zu Ihrer Befriedigung d. h. so tun daß Sie leidlich au courant der hiesigen litterarischen Bewegung wären. Schriftlich ist das etwas schwierig. Über das einzige Thema „Theophilo Braga“, allein könnte und müßte ich bogenumfang schreiben; und würde doch nicht erweisen was ich ich mit seinen Bänden in der Hand Ihnen mit Leichtigkeit demonstrieren wollte.
Wenn Sie sich in der Tat mit port. Litteratur beschäftigen wollen, so sind Ihnen Braga’s Legionen von Bänden durchaus unentbehrlich, ja eigentlich brauchten Sie (wie ich) zwei Exemplare davon, eines um es mit am Randnoten |2|mit Verweisen, mit Exklamationen zu bedecken hie und da einen ungewißen Strich durch die Seite zu führen, kurz um es zu verbrauchen und ein zweites um es eben als sauberes Exemplar für die Schränke gelten zu lassen. Ich wenigstens habe mein erstes Exemplar total verbraucht; habe überhaupt noch nie ein Buch gelesen, daß [!] so der berichtigenden, bessernden, verweisenden und vernichtenden Hand des Lesers bedürfte wie diese Historia da Litteratura1 mir eines dessen Studium so unerquicklich und dornenvoll wäre wie dieses, das so die Aufmerksamkeit und die Kritik verlangen; nie eines das ich so undankbar und ungerecht behandelt hätte. Denn ich kann nicht läugnen daß es mir große Dienste geleistet hat und noch leistet; daß ich viel Neues daraus gelernt, auf viele mir unbekannte Quellen aufmerksam geworden; dass der Verfasser sehr viel gearbeitet, und viel Neues gefunden und gesagt hat. Mit wie viel Mühe aber muß man erstens die definitive Ansicht des Verfassers, der sich hundertfach widerspricht widerlegt und selbst verbessert, kennen lernen 2|3|und zweitens das was wirklich Factum ist, von den zahllosen Hypothesen sondern, als wären sie längst erwiesene Tatsachen! Wenn man durch wiederholtes Prüfen erfahren hat was Braga von einem Autor weiß und über ihn urteilt, und dann nach eigener ungesunder Arbeit die selbständig genommenen Resultate mit denen des Vorgängers vergleicht, so zürnt man ihm über all das was er uns hätte lehren müssen und nicht gelehrt hat, umso aber vielleicht noch mehr das was er uns gelehrt hat, denn wir haben es uns ja, trotz Braga's, selbständig auf eigenen Wegen erobern müssen. Und doch dürfen wir ihm das Verdienst der Entdeckung nicht absprechen wo er das, […] und früher als wir gefunden.–
Sie müssen ihm, wenn Sie ihn lesen, mißtrauisch, gewappnet und geharnischt entgegentreten, bereit all und jedem Satz zu widersprechen den er aufstellt. Sie müssen bei jeder Ziffer, jedem Zitat auf der Hut sein. Sie dürfen ihm nichts nachsprechen daß [!] Sie nicht selbst auf seine Herkunft hin geprüft haben. Und wie oft ist man außer |4|Stande seine Behauptungen zu verificieren! Wenn sie sonst nicht ganz kaltblütig und von unanfechtbarer stoischer Ruhe sind, werden Sie sich oft versucht fühlen die sämmtlichen Bände auf Nimmerwiedersehen bei Seite zu legen. Da man aber die Bände positiv braucht, da es keinen Ersatz für sie giebt, so muß man eben Geduld haben und den Weizen aus der Spreu auflesen.
Meine feste Überzeugung ist es daß sämmtliche opera Th. Braga's Kinder des Augenblickes sind; daß alle beim ersten Entwurf stehen bleiben; daß er nicht im Stande ist eine einmal geschriebene Zeile zu durchstreichen; er schreibt einfach eine zweite in der er das directe Gegenteil von dem vorher behaupteten sagt und läßt dem Leser die Wahl zwischen beiden. Daher auch die kolossale Ausdehnung seiner Bände; daher die Wiederholungen; daher die Irrtümer, die Widerlegungen etc. etc. Nonumque prematur in annum3 muß ihm ein mitleidiges Lächeln entlocken. Ich weiß wohl daß dieser Arbeitshast ein edler Zug zu Grunde liegt, daß |5|die klare Erkenntniß dessen was hier in Portugal alles fehlt, ihn zu dieser fiebernden Hast treibt, und ihn auf den Irrweg leitet alles selbst tun und schaffen zu wollen. In seinem 12ten Jahre war Braga Dichter, dann Jurist, dann Litterarhistoriker, dann Philologe, dann Geschichtsschreiber, dann Philosoph (Positivist!) und jetzt ist er Politiker, doch nimmt er wochenweise die alten Themata wieder auf. – Er ist in seiner Litteraturgeschichte einen großen Schritt vorwärts gegangen, ich will sagen daß er die Geschichte der port. Litt. von einem ganz neuen und weiten Gesichtspunkte aus betrachtet und vieles elucidiert hat – aber als er sein Werk unternahm war der Tag noch nicht gekommen wo es mit gutem Erfolg ausgeführt werden konnte und der Tag ist auch jetzt noch fern. An tüchtigen Vorarbeiten fehlt es noch gänzlichst; die für die erste Epoche wichtigsten Denkmäler waren und sind noch zum größten Teile inedita; aber so ein großer Teil der Werke aus dem XVIten Jahrhundert; von keinem Dichter oder Schriftsteller überhaupt existiert eine |6|gute Ausgabe; die modernen sind schlechter als die alten, die alten sehr selten, viele ganz unfindbar, etc. etc. – Für Camoẽs ist viel getan, mehr als für die ganze übrige Litteratur zusammen und doch wie weit ist man noch von einer definitiven Ausgabe seiner Werke entfernt! Ganz unkritisch hat man ihm jedes beliebig hübsche Gedicht zugeschrieben; mit frevelhaftem Leichtsinn andere Dichter einfach für Diebe und Betrüger erklärt ( Bernardes!) – dessen was unter Camões Namen geht, gehört ihm nicht! Und wie ist man mit seiner Sprache umgegangen! was man jetzt liest in dem von Faria y Sousa gereinigten (!) Text! Camoẽs sollte der klassische Autor sein, seine Sprachen die maßgebende möglichst frei von volkstümlichen „verderbten“ Formen, und da hat man dann den plumpen Bären nach Herzenslust gelackt. Wie durfte Camoẽs aus [?] dem Volke arço statt ardi; meças statt midas sagen; idem quês für queres, estamgo für estomago; devação für devoção gebrauchen, idem hũa, algũa, nenhũalũa; idem qinçaes oder gar sicaes für quizá; nicht einmal sono aumentar sotil longinco antigo durfte er schreiben; überall wurde latinisiert, ver|7|feinert, verbessert d.h. verfälscht. Unterfangen Sie sich ja nicht metrische oder sprachliche Studien an irgend einer der vorhandenen Ausgaben vornehmen zu wollen: sie werden Gefahr laufen vielfach zu irren. Wer eine port. Litteraturgeschichte schreiben will, muß eigentlich vorher eine Bibliotheca de autores portuguezes herausgeben, eine Aufgabe die wenn ein Einzelner sie gewissenhaft besorgen will, wohl einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen möchte. Und um sie zu machen muß er erst Jahre lang die Mss. der Bibliotheken von Lisboa, Porto, Evora, Coimbra durchforschen, und, was noch schlimmer ist, einiger zwanzig Bibliophilen schwer zu erlangende Gunst erwerben um ihre Schätze ausnutzen zu können. Daß er überdies ein kleines Kapital ausgeben kann, um die notwendigen käuflichen Ausgaben alle für sich zu erwerben, und die nötgen Mss. kopieren zu lassen, sei auch noch erwähnt.
Doch zum Schlusse dieses Kapitels: Ich sende Ihnen heute einige Bände von Braga ( Historia do theatro 4 Bände4 und Quinhentistas 1 Bd.5) und werde Ihnen demnächst 3 Bde Camões6|8|zustellen. Wenn Sie dann noch den Band über Bernardim Ribeiro7 hinzunehmen, haben Sie was Br. über die Blütezeit der port. Litt. geschrieben – und mit dieser werden Sie sich doch gewiß zuerst beschäftigen. Wenn ich bitten darf, so lesen Sie zuerst den Bd über Sá de Miranda, einmal weil er einer der besten ist, und dann auch um später zur Kritik meiner Ausgabe einen ungefähren Maßstab zu haben. Und hernach machen Sie sich, nicht vorher, an Camões der als Lyriker in der Tat unvergleichlich ist und wohl verdient daß man ihn mehr lese und besser kenne. Welche Ausgabe oder Ausgaben haben Sie? Die Braga'sche, die unelegant aber sehr billig und handlich ist (1600 rs. = 3 Fl.), und wenigstens die vollständigste von allen, wird Ihnen sehr nützlich sein. Ich werde Ihnen gern von zeit zu zeit einige Bände zusenden, und dafür irgend etwas von Ihnen z.B. ein Exemplar Ihres Vulgärlateins8 annehmen, das ich irgend einem fleißigen jungen Freunde hier zum Geschenk machen würde. Wenn Sie aber eine größere Sendung mit einem Male zu erhalten wünschen, so wenden Sie sich wie in diesem, so in anderen Fällen am besten an Viuva Bertrand & Co. Lisboa Chiado, der ja |9|mit Niemeyer in Beziehungen steht und daher öfter Sendungen nach Deutschland zu dirigieren hat.
Ehe ich Ihnen über neuere und neueste port. Litteratur berichte, müssen Sie mir sagen ob Sie überhaupt im Stande sind moderne Lyriker zu lesen? oder ob Sie lieber aus Romanen und Sittenbildern Ihre Kenntniß schöpfen? Eine Übersicht über diese Litteratur gibt es nicht: Braga hat aber eben jetzt 2 Bde Historia do Romantismo9 herausgegeben in denen Casthilho, Herculano und Garrett abgehandelt werden; über diese wie ferner Mendes-Leal; Thomaz Ribeiro und alles was neuere Litteratur ist handelt breit und als Panagyriker Romero Ortiz. – Die neueste Litteratur aber hat noch keinen Geschichtsschreiber gefunden, doch ist sie ungleich lebenskräftiger und frischer als die neuere. Einige sehr muntere sehr charakteristische Aufsätze über die bedeutenden unter den jetzt wirkenden finden Sie in der Zeitschrift Renascença und in Occidentes, die Ihnen überhaupt ein lebendiges farbenfrohes Bild von der jungen Welt hier geben würden. |10|Ramalho Ortigão; Eça de Queiróz; João de Deus; João Pinto, Pedro Ivo sind Ihnen noch ganz unbekannt? Sie kennen den Primo Bazilio und O Crime do Padre Amaro (beides von Eça de Queiróz) nicht? von denen der erstere Camillo Castello Branco's Eusebio Macario hervorgerufen hat? Und ist Madame Rattazzi's Portugal à Vol d’oiseau nicht zu Gesicht gekommen? Daß dieses Büchlein, für das ich gerade nicht Adepten werben möchte, Ihnen Führer sein sollte und könnte will ich nicht behaupten; doch lässt es in dem Kapitel über Litteratur, die Hauptfiguren der Lissabonner Welt wenigstens in flüchtigen Skizzen an Ihren Augen vorüberziehen; die Urteile sind falsch, einseitig, unvollständig und nichts als das was aus der Erzählung eines Freundes in ihrer Erinnerung haften geblieben ist. Doch nennt es Ihnen den Hauptnamen und Titel.
Was Diniz betrifft, so ist alles, was er geschrieben, sehr lesenswert. Ich ziehe der Fam ilia Ingleza noch die Fidalgos da casa mourisca vor. Die einzige kleine Biographie |11|von ihm welche existiert, erhalten Sie heute.
Das Werk über Volkspoesie von dem man Ihnen in Lissabon gesprochen, kann wohl kein anderes sein als das von Neves e Mello über das Sie einen Aufsatz von Th. Br. in der Bibl. Crit. p. 204 finden10?
Und nun zu Herrn Geppert der weder ein Verwandter noch ein Bekannter von mir ist und dessen Reiseeindrücke mir, wie Stellen die sie gelaufen, denselben nichtigen Eindruck hinterlassen haben. „Ungerecht“ nannte mein Mann (der das Büchlein, wie ich mich erinnere, mit herzlichem Gelächter aufgenommen hat) ihr Urteil, weil es ihm geschienen als wollten Sie den aus Gepperts als Anekdoten als Facit zu ziehenden Tadel, als nicht gerechtfertigten zurückweisen; und damals war, wie mein Mann selbst, der mehrfach und lange in Spanien gewesen, erfahren und frisch in der Erinnerung hatte, die Unordnung und Unehrlichkeit fast allgemein geworden. Die Fortschritte, die das herrliche Land von damals bis jetzt in jeder Beziehung gemacht hat, sind ganz außerordentlich, und wir |12|verfolgen die großartige Regeneration Spaniens das noch immer über eine Fülle von Originalkräften verfügt, mit Bewunderung und mit großem Interesse.
Daß Sie Ihre Ernennung zum délégué honoraire der Sociédade Nacional Camoniana angenommen haben, hat uns sehr gefreut: hoffentlich wird das sehr opportune Unternehmen Frucht tragen. Die „Reden“, die ich Ihnen in meiner Karte versprochen, habe ich nicht absenden können, weil sie noch nicht zur Verteilung gekommen sind.
Ich werde stets herzlich gern bereit sein, Ihnen über alles Mögliche Portug. Auskunft zu geben; nur müssen Sie verzeihen wenn ich etwas hastig schreibe und wenn die Spät-renaissance Schnörkel meiner Handschrift die oft ins Barocke ausarten bei dieser Eile nichts weniger denn zierlich werden.
Mit bestem Gruß
hochachtungsvollst
Carolina Michaëlis de Vasconcellos
2 Die Anordnung der Blätter in der bibliothekarischen Bearbeitung entspricht nicht der sinngemäßen Abfolge und wurde hier korrigiert.
3 Horaz, Ars poetica 388 , ein in der Zeit gerne benutztes Zitat, das zu Sorgfalt in der Prüfung von Veröffentlichtem aufruft.
8 Schuchardts Dissertation, HS (1867-1868), Brevier/Archiv Nr. 002a-c., 3 Bände.