Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (388-11143)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

18. 05. 1924

language Deutsch

Schlagwörter: Wörter und Sachen [Zeitschrift] Antisemitismus Universität Wienlanguage Spanisch Gamillscheg, Ernst Steiner, Herbert Meyer-Lübke, Wilhelm Meringer, Rudolf Lerch, Eugen Zauner, Adolf Pușcariu, Sextil Iordan, Iorgu Nyrop, Kristoffer Gilliéron, Jules Graz Nyrop, Kristoffer/Bratli, Carl (Hrsg.) (1924) Spitzer, Leo (1924)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (388-11143). Bonn, 18. 05. 1924. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2234, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2234.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 18. V. 1924

Verehrter lieber Freund,

Das ist nicht schlecht! Hatte ich das Theoretische gegen Gamillscheg (Fußtritt?) mit einem Theoretischen für Schuchardt (Fußfall?) zu dessen 80. Geburtstag verbunden, daher die fette Namensnennung nach der Steiner'schen Namenserhebung – und Sie bemerken das 2 1/4 Jahre später! Und ich dachte tatsächlich, daß Sie alles Eintreffende au jour le jour lesen, weil Ihre Anspielungen diesbezügliche Erwartungen gestatteten. Nun, der Spitzerkorrespondenzberg scheint mir weniger wichtig als der Spitzerseparatenberg, wenn auch jener vielleicht den besten Kommentar zu diesem liefert.

Das "schwere Kreuz" ist doch nur ein leichtes Wortspiel (mit dem +Zeichen bei Kontamination). Selbstverständlich meine auch ich, daß Kontamination keine Schwierigkeit bedeutet. Aber, wenn ich eine einfachere |2|Erklärung weiß, d.h. ohne Kontamination auskomme, so ziehe ich sie vor. Im übrigen verschwimmen ja Stammablaut und Kontamination miteinander, indem doch wohl jener im Spezial­fall, eine Ausdehnung dieser ist.

Ihr Ausspruch "es kommt mir eben nicht auf die Richtigkeit des einzelnen Ergebnisses an, die ja bestenfalls relativ ist" formuliert das, was ich gegen M-L habe. Lesen Sie die sich an meinen Aufsatz in W.u.S. reihende "Erwiderung" aus seiner Feder durch, bitte, und Sie werden wie ich den Eindruck des rigoristischen Sprachpapstes haben, der da dekretiert, was in der Sprache vorkommt was nicht – und geistreich zu sein glaubt, wo er nur boshaft ist. "Für jeden, der die Lautentwicklung des Spanischen kennt" ist es klar, daß *mijilla nicht vorkommen kann. Er erwartet natürlich nach vecino ein *mejilla. Aber siehe da: altspan. heißt es mexiella und das hätte doch zu *mixiella werden können, da finiestra, fiviella vorhanden sind. |3|Oder das Schwein(egrunzen) wird durch g/k – r, aber nur mit dunkeln Vokalen, ausgedrückt, nach M-L. Aber siehe da, Sainéan hat eine Reihe von quiro, ciro etc. – Oder "anklagend zur Rede setzen" soll eine "Entgleisung" sein – M-L bessert an meinem Stil ! Tatsächlich holt er sich nur eine Blamage: jene bei mir S.70 auftauchende Bedeutungsangabe stammt aus Georges, der besser Deutsch kann als M-L. und "zur Rede setzen" ist von Luther bis Wieland belegt. – Nun, ich werde die Antwort ebensowenig wie auf Gamillscheg's verstohlene Angriffe schuldig bleiben.

Tatsächlich kann ich leere Räume nicht gut vertragen, d.h. ich suche mir über Sprachliches wie Menschliches immer ein meinetwegen provisorisches oder vorschnelles Urteil zu bilden nach dem Prinzip: Lieber irgend als gar kein Urteil. Alle unsere sog. definitiven Urteile sind ja doch schließlich bloße Verbesserungen früherer, provisorischer. |4|Und so suche ich mir denn auch über die Nebenmenschen klar zu werden. Ich teile nicht die Menschen in Freunde und Feinde ein – das überlasse ich Meringer und Meyer-Lübke, sondern in (1) Fremde, (2) Gefährten, (3) Weggenossen, (4) Bekannte, (5) Unbekannte, wobei die Feinde sich auf 3-5 aufteilen. Schon gar nicht bildet das Moment des Antisemitismus ein Kriterium der Freund- oder Feindschaft. Fast alle meine hiesigen Freunde, die sich auch wiederholt für mich eingesetzt haben, sind Antisemiten (was man oft mehr oder weniger schämig eingestanden bekommt) – und mein Feind Lerch ist es nicht. Ich bekomme, wenn ich unedle Antriebe bei jemand sehe, leicht genug von ihm und verbessere dann vielleicht das Körnchen Edelsinn, das in jedem Menschen schließlich vergraben ist – aber von vornherein nehme ich nur Gutes an, bis ich enttäuscht werde (was allerdings oft passiert).

Zauner hat anläßlich des 60. M-L.-Geburtstages und der zu arrangierenden Festschrift ein gegen mich gerichtetes etwas ironisch klingendes Schreiben an Gamillscheg geschrieben, |5|das dieser die Taktlosigkeit hatte mir zuzusenden. Schließlich, wenn er nicht antisemitisch ist, warum hat er in Graz nicht an mich gedacht? Worte beweisen weniger als Taten.

Daß ich bei neuen Bekannten mir oft die Frage vorlege: "wie aber hast du's mit dem A.-S." – können Sie mir es verdenken? Als ich an die Wiener Universität kam und auch noch als ich hieher kam, sprach ich frei und unbekümmert mit jedem Menschen. Ich habe es leider einsehen müssen, daß oft ein ironisches Lächeln beim Partner aufblitzte, das zu sagen schien: Ja ja, bei Leuten aus dem Osten wie Sie... Einmal saß ich "beim Glas Wein" in der "Lese" am Rhein (Aussicht auf das sommerliche Siebengebirge) in netter Gesellschaft und eine Dame, Professorengattin, sagte wohlwollend: "Sagen Sie, Spitzer, wie kommt Ihnen das vor, daß Sie hier sind?" Mag sein, daß sie nur aufs Österreichtum anspielte – aber wenn sie gewußt hätte, was für eine Eiswelle sie über mich ergoß.

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Leider sehe ich nicht hoffnungsvoll in die politische Zukunft. Der Sturz Poincarés wird die deutschen Industriemagnaten ermutigen, die Reparation zu sabotieren. Sie kennen diese Klasse Menschen, die mit einem starren Chauvinismus eine noch starrere Geldsäckellebensanschauung besitzen, wohl nicht. Schon hat ein Kapp-Putschler eine Sondergruppe begründet, die die Industrie langsam zu sich herüberziehen wird. Die Folge wird sein, daß die französischen Linkspolitiker, die jetzt ans Ruder kommen, mit Mißerfolgen bedeckt, dem Hohne Poincarés verfallen werden: "Seht, das habt Ihr von Euren pazifistischen Idealen"...

Puşcariu gegenüber habe auch ich Protest erhoben gegen jene dunkle Angelegenheit. Er antwortete sehr nett, aber, wie mir Jordan mitteilt, sind seine Taten andere: er ist einer der größten Trabanten Jorga's. Übrigens soll auch er gegen die Akademiemitgliedschaft Tiktin's und Candrea's protestiert haben, weil sie Juden seien.

Jordan schreibt im Jaşier "Arhiva".1

Span. zuño scheint mir zu zuñir (las abejas me zuñen los vidos bei Gil Vicente) 'summen', vielleicht |7|auch '*murren' zu gehören (vgl. un air grognard). In Salamanca heißt zuñidero 'molesto, insidioso'.

Was für ein Spanisches hat Nyrop geschrieben?2

Gilliéron Levallois (Seine), 59 rue Carnot.

Ich arbeite jetzt für die Walzel-Festschrift (60 Jahre) an einem Artikel über Péguy's Stil,3 eigentlich nicht ganz gern, weil ich die Festschriften schon satt habe.

Herzlichste Grüße von

Ihrem altergebenen

Leo Spitzer


1 I. Iordan schreibt in diesen Jahren regelmäßig für die in Iaşi erscheinende Zeitschrift Arhiva. Revista de istorie, filologie si cultura romîneasca .

2 Die einzige aktuelle Veröffentlichung Nyrops zum Spanischen ist die Anthologie Moderne spanske Forfattere. Hrsg. von K. Nyrop und C. Bratli, 1924.

3 LS, "Zu Charles Péguy's Stil", Spitzers Beitrag zur Festschrift für Oskar Walzel (Vom Geiste neuer Literaturforschung, S.162-184).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11143)