Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (385-11140)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
24. 04. 1924
Deutsch
Schlagwörter: Revue de Linguistique Romane Dreyfus-Affäre Universität Marburg Französisch Gilliéron, Jules Bloch, Oscar Morf, Heinrich Meyer-Lübke, Wilhelm Spitzer, Emma Meillet, Antoine Bédier, Joseph Brunot, Ferdinand Vossler, Karl Spitzer, Wolfgang Riegler, Richard Riegler, Theodor Küchler, Walther Paris Bonn Wien Spitzer, Leo (1923)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (385-11140). Bonn, 24. 04. 1924. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2231, abgerufen am 02. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2231.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Bonn, 24. IV. 1924.
Verehrter lieber Freund,
Von Paris nach 10tägigem Aufenthalt zurückgekehrt, nehme ich an, daß Sie sich für meine Eindrücke interessieren, und schreibe, obwohl Ihrerseits ein Brief fällig ist.
Eine Taverne in Paris trägt die Aufschrift "Au beau pays de la France". Das ist der Sucus meiner Eindrücke. Schönes Land, reiches Land, glückliches Land. Demgegenüber: Deutschland, oh armes Land!
Weiters: In Frankreich ist der Krieg vorbei, bei uns nicht. Das scheint in Widerspruch zu stehen mit dem bekannten Militarismus. Der Widerspruch löst sich, wenn man denkt, daß das Militär gegen außen sich wendet, Exportware ist – im Innern, wenigstens in Paris, hört man nichts von Krieg, nichts von Unruhe, nicht einmal Animoses über Deutschland. Die Zeitungen schreiben viel ruhiger als in Deutschland. In Paris gibt es wenig Kriegsdenkmäler (ich habe nur 2, sehr bescheidene gesehen), fast keine umbenannten Straßen – das Monument des Generals Galliéni kann aus Platzmangel nicht |2| aufgestellt werden usw.
Ich sprach drei unserer Fachgenossen: Jeanroy, Gilliéron, O.Bloch. Der erste der chauvinistischste: Deutschland glauben wir nicht mehr, wir wollen bezahlt sein, die Schwarzen im Rheinland und die Unterstützung der Sonderbündler – ma foi, on fait ce qu'on peut. Aber wenigstens kein Haß gegen Deutschland und kein Offensivgeist.
Gilliéron wildwütend wie immer und widerspruchsvoll. Einerseits: "L'Allemagne est ma patrie scientifique", anderseits: "je hais les Allemands, et particulièrement les Suisses allemands" (wie Morf u. M-L) "Je suis un Heimatlos". Mir wirft er vor, daß ich die Verletzung der belgischen Neutralität nicht genügend scharf in meinen Kriegsschriften verurteilt habe, aber wir wurden immerhin zum Thee eingeladen und wirklich herzlich aufgenommen, während er bekanntlich bei dem M-L.-Bankett fehlte. Auf ein Widmungsexemplar schrieb er mir: "A mon cher ami Spitzer". Die Rheinpolitik verurteilt er, er sieht voraus, daß Deutschland bald wieder Elsaß-Lothringen zurücknehmen werde. Mit seinen französischen Kollegen steht er schlechter denn je, alle sind Idioten oder Charlatane. Er will in 1 Jahr in Pension gehen, wenn sein |3| Pensionsgehalt von der Kammer mit 2/3 (oder 3/4?) seiner jetzigen Bezüge normiert wird. Dann wird der ihm keineswegs gleichkommende O.Bloch sein Nachfolger.
O. Bloch ist Jude – überflüssig das zu sagen – und daher sehr linksgerichtet, Pazifist für Wiederanknüpfung der Beziehungen mit Deutschland. Daher möchte er bei seiner neuen Zeitschrift vor allem auch Artikel von Deutschen haben u. fragte mich, bei wem er sich keinen Refus holen würde. Vor allem möchte er eine Zusage von Ihnen für eine der ersten Nummern haben (Sie haben auf seinen Prospekt nicht geantwortet), da Sie durch Ihr Alter und Ihre Würde gewissermaßen über den Gewässern tronen, dann auch von M-L und mir. "Soyez notre interprète auprès des deux grands maîtres", schreibt er mir noch nach meiner Abreise im Auftrag seines Mitarbeiters Terracher. Deutsche Sprache der Artikel ausdrücklich zugelassen. "Revue de linguistique romane" soll der Titel sein.1 Bitte, was soll ich antworten? Oder wollen Sie es gleich direkt tun? (Paris av. de Breteuil 79).
Sonst war in Paris nicht die geringste Empörung zu bemerken, wenn ich in Theatern oder im Métro mit meiner Frau laut deutsch sprach. Überall zuvorkommende Höflichkeit. Nur in der Buchhandlung Champion war eine |4| etwas reservierte Haltung zu merken, auch wurden abfällige Bemerkungen über die Einflüsse Stinnes' laut, aber ich wurde korrekt bedient.
Bloch klärte mich auch über die Stellung des Judentums in Frankreich auf: seit dem Dreyfus-Prozeß sei dieses Thema erledigt. "Ja, wenn wir besiegt worden wären..." Auch Gilliéron gebrauchte einmal gesprächsweise die Wendung "ebenso verhaßt wie Juden in Deutschland".
Ich hielt im Ganzen eine mittlere Linie in den Diskussionen ein, hielt an dem "Erfüllungsprogramm" Rathenau-Wirth fest, tadelte aber die die Reaktion schützend, ja aufreizende Politik Frankreichs und fand wenigstens damit allgemeine Zustimmung. Meillet, Roques waren abwesend, Bédier und Brunot wollte ich nicht aufsuchen, wegen ihrer mir bekannten Haltung.
Das Leben ist sehr viel teurer. Die kleinste schäbigste 3-Zimmer-Wohnung 6000 fr. – und in was für kleinen Wohnungen hausen unsere französischen Kollegen! Jeanroy hat kein Arbeitszimmer, die Blochs und Gilliérons sind sallottinettissimi. Billig ist nur Eisenbahn und Auto. Wir ließen es uns trotz allem gut gehen und trieben für 10 Tage Vogel Strauss|5|-Politik, um nicht zu sehen, was uns in Deutschland erwartet. Natürlich verausgabten wir alle unsere Gelder vom Schwedenkurs – und dabei scheint es, als ob heuer keiner zustande käme.
Allgemeine Verehrtung fand ich für Sie. Gilliéron erkundigte sich aber ausführlich über Ihr Befinden, äußerte sich sehr nett über das Brevier, ebenso Bloch (s. o.) und auch Jeanroy. Nichts Gutes dagegen war von M-L und Vossler zu hören. Die "théories aventureuses" des ersteren, die "philosophie" des letzteren haben dort wenig Reperkussion.
Mein Französisch, ich spürte es, wurde von Minute zu Minute besser. Es hatte keinen Rost angesetzt, seit den 14 Jahren, wo ich darin mich nicht üben konnte, meinte einer der Herren.
Nach Bonn zurückgekehrt fühlen wir uns wie aus einem schönen Traum erwacht. Welche Spießbürgerlichkeit und Kleinheit der Verhältnisse. Die Großstadt hat doch etwas Erweiterndes, Befreidendes – man spürt sich selbst vibrieren, während die Ruhe der Kleinstadt nicht nur vertieft, sondern auch verflacht.
|6|Hier fanden wir unser Pückchen von fremder Kost etwas abgemagert, aber wohlauf und etwas hübscher geworden. Ein Haufen Korrespondenz türmt sich auf meinem Schreibtisch, auch von Riegler, der über Theo's Unbeständigkeit und Journalisterei, wie mir scheint nicht ganz unberechtigt, Klage führt. Bald gehen die Vorlesungen los.
Von Marburg noch nichts Neues. Die Berufungen Heiss-Küchler sind noch nicht ergangen, die Regierung läßt sich zweifellos Zeit bis nach den Wahlen.
Nun lassen Sie bitte bald von sich hören! Alles Liebe vom
Spitzer
Unser Bonner-Ferienkurs wurde sehr gut besucht. Ich hatte z.B. 150 Hörer (Oberlehrer und -innen). Von der letzten Vorlesungsstunde weg fuhr ich nach Paris. "Fesch"!
Was sagen Sie zu meinem Falott-Artikel und zur Bemerkung gegen Vossler über Wien?2
1 Die Zeitschrift erschien ab 1925 zunächst in Paris, später dann in Straßburg und hat ihren Namen bis heute behalten.
2 L.S., "Französische Etymologien", in: Zeitschrift für romanische Philologie 43 (1923): 587-600. In einer längeren Fußnote (S. 593-94) korrigiert Spitzer Vosslers Verständnis vom Sprachgebrauch im Wien der letzten Jahre des Monarchie insbesondere dahingehend, daß die Fremdsprachen sehrwohl unterschiedlichen Status in sozialer Hinsicht und damit in ihrem Alltagsgebrauch hatten.