Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (381-11137)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

28. 01. 1924

language Deutsch

Schlagwörter: Antisemitismus Universität Marburg Neuphilologische Mitteilungenlanguage Katalanischlanguage Spanischlanguage Baskisch Frings, Theodor Curtius, Ernst Robert Wechssler, Eduard Gelzer, Heinrich Meyer-Lübke, Wilhelm Meyer-Lübke, Hermine Jud, Jakob Gilliéron, Jules Lerch, Eugen Spitzer, Leo (1923) Spitzer, Leo (1928) Spitzer, Leo (1928) Deutscher Sprachverein, (Hrsg.) (1924) Spitzer, Leo (1925)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (381-11137). Bonn, 28. 01. 1924. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2227, abgerufen am 15. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2227.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 28. I. 1924

Verehrter lieber Freund,

Seit Weihnachten habe ich von Ihnen nur die Karte vom 26. I. erhalten. Schon war ich um Ihre Gesundheit besorgt und wollte eben deshalb anfragen. Haben Sie mein – ebenfalls mehr als halbjährig verspätetes – Separatum (Ch.-L. Philippe)1 erhalten? Schicken Sie bitte auch mir ein lithographiertes Druckfehlerverzeichnis, damit ich die Nachhut der Primitiae auch habe.

Sie erwarten "beste Nachrichten". Nun, es scheint, daß ich sie geben kann. Es hat nämlich Wrede, der Marburger Sprachgeograph, der für mich heroisch gekämpft hat, seinem hiesigen Schüler Frings, der mich verschiedentlich "begutachtet" hatte, Folgendes von der entscheidenden Fakultätssitzung geschrieben: "Ich habe im Zeichen des Sprachatlas gesiegt: Spitzer an erster Stelle, 'in weitem Abstand' hinter ihm zwei weitere Namen". Allerdings habe ich von |2|Curtius noch keine Nachricht außer etwa vor 14 Tagen, daß der Commissionsbericht für mich sehr günstig sei u. Wechssler seine Candidatur zurückgezogen habe, so daß ich an erste Stelle rücke. Bin ich also durchgedrungen, so fragt sich, ob die Regierung mich beruft: antisemitisch ist das preußische Unterrichtsministerium nicht, auch denke ich nicht, daß sie an der Romanistik gerade sparen wird wollen; die anderen Kandidaten (wohl Gelzer und K. Glaser) scheinen mir – oder irre ich mich ? – nicht recht konkurrenzfähig. Aber wann wird der Ruf kommen? Vielleicht im Herbst? Oder gar nicht?

Der Kampf in Mbg. drehte sich gar nicht um die Wissenschaftlichkeit, sondern nur um den "Menschen". M-L wurde vom Dekan in Mbg. darüber befragt u. wird wohl "lila" geantwortet haben, aber Frings und Meissner haben sich sehr günstig geäußert. Wrede hatte ursprünglich alle Kommissionsmitglieder außer Curtius gegen sich, da er aber ein Mann der Tat und sehr angesehen ist, so brachte er sie auf seine Seite.

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Bitte schreiben Sie das aber noch niemand, denn das Schweigen Curtius' verbirgt vielleicht noch einen drawback. Sollte es mir gelungen sein, so wäre das ein Triumph über Frau Minny, die schon hier die Parole ausgegeben hatte: "Daraus wird ja nichts. Sp. paßt nach Mbg. wie die Faust aufs Auge".

Nun, verehrter Freund, naht Ihr 82jähriger Geburtstag! Wie stolz können Sie sein, ihn in solcher geistiger Frische zu feiern und so befriedigt wie über wohlgepflügte Saatfelder auf die Wellenhügel Ihres reichbewegten Schaffens dahinzusehen. Nehmen Sie alle herzlichen Wünsche, die wir ersinnen können, von uns Spitzers entgegen und gedenken Sie unser am 4. Februar. Ich hatte gehofft, der Verleger werde mir zu Ihrem Geburtstag eine Neuauflage des Breviers in Aussicht stellen, aber damit scheint in den jetzigen Zeiten ja nichts zu sein.

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Die Romano-Iranica Densusianus scheinen mir "wüst" zu sein. Aber auch mit Jud's Artikel in der Bachmann-Festschr.2 kann ich mich wenig befreunden: solche offenkundig onomatopoet. Stämme wie biff- jaff- sollen gallisch *b(r)ist-, *gest- sein! Jud wird immer konstruktiver und gegenwartsferner. Die erste Lieferung des katal. Sprachatlas3 ist ja riesig, aber mich erdrücken fast jene öden, wenn auch notwendigen Materialsammlungen, die dem Gilliéron'schen Schimmeltritt folgen. Ich habe der Klemperer–Lerch'schen neuen Zeitschrift "Idealistische Neuphilologie" einen halbprogrammatischen halb bekenntnishaften Artikel "Aus der Werkstatt des Etymologen" eingereicht,4 der, wie ich glaube, in Ihrem Sinn sein wird.

Zwei Fragen: 1) haben Sie irgendwo über sp. zurdo geschrieben 2) glauben Sie nicht, daß bask. zurriaga 'Peitsche' aus dem Span. stammt (vgl. zurrada) oder ihm parallel läuft?

Erhalten Sie die Neuphil.Mitt. zugesandt? – sonst sende ich Ihnen meinen garduña-Artikel.

Nochmals alles Herzliche zum Geburtstag.

Innig gedenkend

Spitzer

Soeben kommt die Bestätigung des oben Mitgeteilten von Curtius mit dessen Aufforderung zu äußester Diskretion, da die Regierung sonst verstimmt werden könne. Die Liste ist derartig gehalten, daß die Regierung entnehmen muß, daß die Fak. nur mich will.


1 L.S., "Pseudo-objektive Motivierung bei Charles-Louis Philippe", in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 46 (1923): 359ff; aufgenommen in L.S., Stilstudien. (2 Bde.) München: Hueber 1928; hier Bd.2: "Stilsprachen", 166-207.

2 Festschrift Albert Bachmann zu seinem sechzigsten Geburtstage am 12. Nov. 1923. Berlin: Deutscher Sprachverein 1924 (in: Zeitschrift für Deutsche Mundarten 19/1924).

3 Die Formulierung ist mißverständlich. Jakob Jud und Karl Jaberg haben mit dem katalanischen Sprachatlas nichts zu tun, dieser wurde von Antonio Griera herausgegeben: Atlas lingüistic de Catalunya. Barcelona: Institut d'estudis catalans 1923.

4 Der Artikel "Aus der Werkstatt des Etymologen" wurde 1925 in Bd.1 des Jahrbuchs für Philologie (München: Hueber), 129-159, publiziert.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11137)