Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (379-11135)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
21. 12. 1923
Deutsch
Schlagwörter: Romania (Zeitschrift) Archivum Romanicum Revista de Filologia Española Universität Marburg Antisemitismus Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Wörter und Sachen [Zeitschrift] Jud, Jakob Jaberg, Karl Curtius, Ernst Robert Wechssler, Eduard Riegler, Theodor Riegler, Richard Meyer-Lübke, Wilhelm Roques, Mario Meillet, Antoine Vossler, Karl Falk, Hjalmar Wundt, Wilhelm Farinelli, Arturo Graz Wien Meyer-Lübke, Wilhelm (1923) Spitzer, Leo (1926) Lerch, Eugen/Klemperer, Victor (Hrsg.) (1922) Spitzer, Leo (1922) Falk, Hjalmar Sejersted (1923) Farinelli, Arturo (1924)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (379-11135). Bonn, 21. 12. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2225, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2225.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Bonn, 21. XII. 23
Verehrter lieber Freund,
Dank für Ihren Brief vom 14.
Juds Haltung ist nicht neutral und auch nicht ganz offen. Auf meine neuerlichen Vorstellungen, daß ein Rechtsbruch Rechtsbruch bleiben und man bei Deutschld. im selben Fall zetere, antwortet er, er fasse den Friedensschluß nicht so "formal" wie ich, indem der latente Krieg eben weiterbestehe, den er verurteile, aber... [ich ergänze: seelisch unterstützt]. Ich finde es jetzt nachträglich bezeichnend, daß Jud seit Kriegsausbruch in keiner deutschen Ztschr. mehr etwas publiziert hat, sondern nur in der Rom., Arch.rom., RFE.
Ich hätte an Ihrer Stelle doch auf das Befremdliche der Werbung für den Sprachatlas bei jenen Völkern, die die Romanen systematisch zugrunderichten, hingewiesen. Ich habe mit meiner sehr pessimistisch in Bezug auf den Erfolg einer solchen Werbe-Tätigkeit in dem verarmten Deutschland gehaltenen Antwort Jud u. Jaberg offenbar verstimmt. Jener meint, in paar Jahren |2|würde - wie jetzt in Österreich (?!) – jede Bibliothek jährlich 80 Schw.Fr. für eine Lieferung ausgeben können. Ich bestreite das.
Auch sonst ist mir in Juds neuerlicher Haltung einiges nicht klar. So sein Steinreichtum, den er aber deutschem gelehrtem Schaffen u. Gelehrtentum nicht zuzuwenden scheint.
Ich fühle das alles doppelt scharf, weil ich im Krieg au-dessus de la melée gestanden habe u. nun im Nachkrieg von den s.g. Neutralen zumindest dasselbe verlangen zu dürfen glaube, nicht aber eine ölig diplomatische Glattheit, die bei Frankreich alles – verurteilt (accuse), um es zu entschuldigen (excuser).
Die Sache in Mburg. steht nun so, daß Curtius annimmt, daß ich nach Wechssler genannt werde, aber die Fak. entscheidet sich erst nach den Weihnachtsferien. Konterminen der Antisemiten sind nicht ausgeschlossen. Meine wissenschaftl. Eignung wird nicht diskutiert, bloß die "menschliche u. kollegiale". Um dies zu entkräften, hat C., der zusammen mit Wrede sein Möglichstes tut, ein Gutachten über meinen Charakter bei Meißner eingeholt.
|3|Bitte dies diskret zu behandeln. Wechssler will von Berlin weg a) weil er ein Haus in Marburg hat, während er von Berlin-Nikolassee seine 4 Kinder täglich per Tram in die Schule schicken muß, b) weil er mit der Fakultät nicht allzu gut steht u. sich auch dem dortigen Lehrbetrieb nicht gewachsen fühlt. Alles wird davon abhängen, ob die Regierung auf seinen Verbleib in Berlin Wert legt.
Theos Journalisterei stehe ich auch etwas kühl gegenüber, aber ich denke, das sind nur die Vorscharmützel zur großen Schlacht, die er schlagen sollte. Daß er in Graz nicht das findet, was er für sein "Gemüet" braucht, scheint sich zu bewahrheiten. Ich rate ihm daher Wien an, aber das wird bei Papa Riegler nicht genehmigt werden. Etwas worin ich anders als dieser denke, ist auch die Priorität der Lebensrechte der Kinder, während im Hause R. die Kinder schlechter essen u. schlechter leben als die Eltern. Rieglers beziehen 3 Millionen ö.K. monatlich und geben jedem der Buben 200.000 K. Zuschuß. Das mag ja pädagogisch nicht schlecht sein, nur leider kommt dieses pädagogische System – vor allem den Pädagogen (den Eltern) zu gute. Bei uns (ich meine bei meinem Vater) sah ich es anders u. |4|bei uns (ich meine meine Familie hier) ist es auch anders.
Mir greift es ans Herz, wenn Theo R. schreibt: "wir führen ein hungriges Höhlendasein", wo ich weiß, daß sein Vater bei einer Mahlzeit so viel Fleisch verzehrt wie wir alle zusammen in einer halben Woche.
Ihre Druckfehlerlosigkeit ist tatsächlich etwas Großartiges. Ich habe Sie immer bewundert. Meine Nervosität ist schuld an den meinen. Bei M-L ist es vor allem die selbstsichere Schlamperei, die mich jetzt ärgert. Er glaubt eben unfehlbar zu sein. Nun, ich habe den clamare-Artikel ordentlich "bloßgelegt". Erscheint in Wu.S.1
Verständlich ist mir M-L übrigens nicht. Er hätte doch allen Grund, mich wegzuloben. Anstatt dessen hat er Curtius ein sonderbares Referat übermittelt, das dieser natürlich richtig beurteilt: hat doch M-L durch ein ähnliches Curtius' Berufung nach Marburg vergeblich zu verhindern gesucht.
Hier sind die Verhältnisse etwas gebessert. Man rechnet wieder in Mark und Pfennig – und alles ist "staunend billig". Eine Briefmarke 5 Pfennig, welch idyllisches Land – nur schade, daß die Mark noch vor kurzem Billionen hießen! Zahl ist Name und wir sind Opfer des "Namenbetrugs", wie F. Mauthner sagt.
|5|Das Erfreulichste aber ist, daß in letzter Stunde doch der Abfall der Rheinlande verhindert worden ist. Etwas, was jede primitive Vernunft erkennen mußte, ist also doch nach langem Hin- und Herschwanken der Reichspolitik klar geworden. Die veredelte Rheinrepublik des Herrn Adenauer scheint überwunden zu sein.
Roques beklagt sich bei mir ("mon cher Spitzer", "votre confraternellement dévoué"), daß die deutschen Verleger der Romania ihre Bücher nicht sendeten. Ich antwortete: weil für die summarischen Berichte der Rom. die dtsch. Verleger keine Exemplare hergeben wollen.
Meillet wird – Rache ? – meinen Artikel in der Vossler-Festschrift2 polemisch behandeln, "critique qui n'enclut pas la profonde estime que j'ai pour le savant et pour l'homme que vous êtes". Haben Sie übrigens Hjalmar Falk's auf Wundt basierende Widerlegung der Meilletschen Ansichten über das Soziale als Sprachverändungsfaktor gelesen?3
Farinelli plant eine Arbeit "Da W. Humboldt a H. Schuchardt".4 Das Centro de estudios históricos hat ihm den in der letzten Nummer anläßlich meines Artikels ("Bribes") angekündigten Artikel wegen zu großer Länge zurückgeschickt. Sie kennen Farinelli. |6|Er wütet. "Questo a me. Questi miserabili li fulminerò!" Oh des Zornes romanische Grundgewalten!
Nun, verehrter Freund, empfangen Sie die herzlichsten Weihnachtsgrüße. Wir denken am heiligen Abend stets an unsere besten Freunde – und wenn Sie das Bewußtsein, irgendwo "remembered" zu werden, an diesem Abend wärmt, so bitte ich dessen überzeugt zu sein.
Alles Liebe von uns dreien
Spitzers
1 Wegen der recht unregelmäßigen Erscheinungsweise der Zeitschrift kommt der Artikel erst 1926 heraus: L.S., "Altfranzösisch clamer, altprovenzalisch clamar 'anklagen' und einiges Prinzipielle aus diesem Anlaß", in: Wörter und Sachen IX (1926): 69-81.
2 Spitzers Beitrag zu Idealistische Neuphilologie ist "Das synthetische und das symbolische Neutralpronomen im Französischen".
3 Hjalmar Falk, Grammatikens historiske Grunnlinjer. Kristiania: Aschehoug 1923.
4 Tatsächlich publiziert Arturo Farinelli Guillaume de Humboldt et l'Espagne, Turin: Bocca 1924; es handelt sich um die Wiederaufnahme eines gleichlautenden Titels von 1898.