Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (376-11133)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

26. 11. 1923

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Universität Marburg Universität Heidelberg Leo S. Olschki Vossler, Karl Bertoni, Giulio Richter, Elise Curtius, Ernst Robert Wechssler, Eduard Urtel, Hermann Hilka, Alfons Meyer-Lübke, Wilhelm Frankreich Urtel, Hermann (1926)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (376-11133). Bonn, 26. 11. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2222, abgerufen am 10. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2222.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 26. XI. 1923

Verehrter, lieber Freund,

Dank für Ihren Brief. Das Stück "Diu perspectiva dict." II hat mir auch schon Kopfzerbrechen gemacht. Es ist tatsächlich außerhalb der Dacoromania erschienen, offenbar Ihnen zuliebe.

Vosslers Aufsatz hat mir profund mißfallen. Er tänzelt […] auf einem Trapez, von dem man ihn – ebenso wie den so sehr von ihm angegriffenen Bertoni – gelegentlich gern herunterholen möchte. Ich habe eine fulminante Protestkarte konzipiert, aber Egeria rät ab und ich füge mich ihrer Einsicht. Empört hat mich vor allem der […] Ausfall gegen französisches Verhalten zur Sprache: ob ich schreibte anders wirkt als vous disez? Und grade die Franzosen sind in sprachlicher Hinsicht pietätvoller als andere Völker. Eitel ist man in Frankreich nicht mehr als anderswo – ich habe einen eiteln Menschen in Frankreich unter den Gelehrten nicht kennen gelernt.

Ferner die Unterscheidung zwischen sagen – sprechen ist doch ganz falsch angegeben: Recht sprechen = pronuntiare, also akustisch hörbar, während die Wahrheit sagen so gebraucht ist wie

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Unser Pückchen hat schon ein paar Worte: das erste mem hieß 'Essen', dann 'bitte'; dann kam tita für die Uhr; beide verschwanden; jetzt ist vorhanden pápa, weniger máma, ferner krakau 'Cacao', 'Tür'. Wenn man ihm sagt "gib mir ein Pussi", drückt er den sperrangelweit geöffneten Mund auf unseren Mund und schmatzt dann, nachdem er sich von uns losgelöst hat, mit den Lippen: die beiden gleichzeitigen Bestandteile eines normalen Kusses erscheinen also getrennt, im Nacheinander. Ich habe übrigens nicht die Absicht, wie so viele Philologenväter ihre Kinderstubenerfahrungen gleich wissenschaftlich auszuplaudern, höchstens gelegentlich bei anderer Behauptungen einzugreifen, dafür ist umso interessanter die Muttersprache, nämlich die Sprache der Mutter. Die werde ich einmal in ein paar Jahren behandeln können. Vorläufig hat El. Richter in ihrem Aufsatz über Wortstellung in der Zeitschrift schon aus unserer Kinderstube geschwätzt, denn das "Tütüchen einer jungen Mutter" ist meiner Frau abgelauscht. Warum hat übrigens Vossler nicht die Erfahrungen, die er bei 3 Kindern machen konnte, herangezogen, statt im Wolkenkuckucksheim erhabener Philosophie zu schweben? Aber allerdings, das widerstrebt ja der geisteswissenschaftlichen Einstellung, die das Experiment verbietet und nur die Spekulation gelten läßt.

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Neulich besuchte mich Curtius und wiederholte seine Kampfabsichten zu meinen Gunsten. An erster Stelle will er Wechssler nennen, der aus Berlin Klagerufe sendet, aber vielleicht doch nicht nach Marburg zurückginge oder auch nicht berufen würde. An zweiter mich. Ob es geht, weiß er nicht, jedenfalls tut er sein Möglichstes, aber die Marburger Fakultät soll schrecklich antisemitisch sein. Für mich ist auch, wie es scheint, mit Schwung, der Germanist Wrede. Neumann hat in Heidelbg. Olschki (Vossler-Schüler) durchsetzen wollen. Interessant ist es zu erfahren, daß Urtel direkt (!) Curtius gebeten hat, ihn zu seinem Nachfolger zu bestellen, unter Beifügung seines Maupassant-Mss.,1 was natürlich Curtius heiter stimmen mußte, angesichts der Magerheit der Resultate u. andererseits der Außergewöhnlichkeit eines solchen Schrittes. Ich frage nun, was man sagen würde, wenn ich so etwas getan hätte. Ich bitte das aber diskret zu behandeln. Ebenso hat sich Hilka in Heidelbg selbst angeboten u. ist zu Neumann hingefahren, um ihn für sich zu stimmen. Neudeutsche Methoden. Nun schwebt aber ein anderes Damoklesschwert über mir. Der hiesige Studienrat Platz, der über französische Literatur des 20. Jahrh. in katholischem Sinne schreibt u. überhaupt katholischer Politiker ist, hat M-L neuerdings dahin gebracht, für ihn ein literarhistorisches Extraord. an der Universität, an der er bisher nur als Lehrbeauftragter las, zu beantragen. Sollte dieser Antrag durchgehen, so wäre das natürlich mit

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Wenn ich ehrlich sein darf, würde ich Sie gern von der baskischen Sackgasse weglocken (oder von dem Wetterwinkel, wenn Sie wollen). Ich verstehe ja sehr gut, was Sie dorthin seit vielen Jahren treibt – aber ist es nicht auch ein wenig grillig, fern dem europäischen Welttoben sich zu vergraben, wo noch große Fragen (nicht bloß Bücherturnerei erfordernde) Ihrer harren im Zentrum Europas – in unserer wenn auch politisch uns gegenüber so harten, so doch ewig schönen Romania? Wenn Sie mir im Sommer kein Doktorthema aufgeben wollten, das mich bei den deutschen Kathedergrößen "eingetegelt" hätte, so weiß ich für Sie eine Menge Ehrendoktorthemen, die Sie uns als "linguistisches Testament" hinterlassen könnten!

Ihre Sammlung von Anredeformen, die an Sie gerichtet wurden, ist mir in ihrer Absicht nicht klar. Soll sie bedeuten, daß das Wort 'Freund' am besten zwischen Wissenschaftlern gestrichen und durch Vornamen à l'espagnole ersetzt werden soll?

Seien Sie ergebenst und herzlichst gegrüßt von einem Heimatlosen, der das dolç anyor nach besseren Gestaden empfindet!

Spitzer


1 Hermann Urtel, Guy de Maupassant: Studien zu seiner künstlerischen Persönlichkeit. München: Hueber 1926.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11133)