Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (375-11132)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
08. 11. 1923
Deutsch
Schlagwörter: Universität Marburg Universität Heidelberg Antisemitismus Wörter und Sachen [Zeitschrift] Vossler, Karl Gamillscheg, Ernst Lerch, Eugen Curtius, Ernst Robert Jud, Jakob Meyer-Lübke, Wilhelm Riegler, Theodor Riegler, Richard Bonn Polen Graz Spitzer, Leo (1923) Vossler, Karl (1923) Meyer-Lübke, Wilhelm (1923)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (375-11132). Bonn, 08. 11. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2221, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2221.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Bonn, 8. XI. 1923
Verehrter, lieber Freund,
Ich habe gleich nach Ihrer noch nach Pörtschach gerichteten Karte, die ziemlich abfuhrmäßig stilisiert war, mir vorgenommen, Sie nicht mehr zu irgend welchen Schritten für mich zu "pressen" – Ihr lieber Brief gibt nun ausreichende Gründe für Ihre Haltung, die ich vollkommen verstehe, wenngleich sie im gleichen Fall nicht die meine wäre. Deshalb werde ich also nie aufhören, Ihr Bild gebührend zu ehren – wie ich auch das Vossler's nicht unterschätze. Ich glaube, Sie unterscheiden bei meinen Urteilsschwankungen nicht momentanen Unmut über irgend einen positiven Vorfall und dauernde Wertung. Die letztere ist bei mir fast unbeeinflußbar von der ersteren: ich habe für Gamillscheg zu wirken versucht in einer Zeit, da es ihm schlecht ging, obwohl ich mir bewußt war, daß er mich hasse u. kein Kampfmittel gegen mich verabscheuen würde; ich würde auch den mir an sich unsympathischen Lerch|2| vorwärts zu bringen suchen, wenn er es brauchte und ich es könnte. Daß oft das Mißverhältnis zwischen wissenschaftlicher Leistung und rein menschlicher Aufrichtigkeit mich anderseits […] abstößt, werden Sie begreifen, wenn Sie wie ich 3-4mal […] hinters Licht geführt worden wären. Ich war immer drauf und dran, an […] beteuerten Freundschaftsgefühle zu glauben – bis ich jedesmal erkennen mußte, wie naiv ich schon wieder gewesen war. Schließlich, wenn man solcher Erfahrungen eine schöne Reihe gemacht hat, wird man bitter, vielleicht auch einmal ungerecht. Und ich habe leider öfters solche Erfahrungen gemacht.
Da Sie sich für unser hieriges Leben interessieren, so teile ich mit, daß wir 80% der Gehaltsstufe 10 nunmehr erhalten, d.h. also daß die älteren Privatdozenten (wie z.B. auch Worringer) in eine fixe Rangklasse eingestuft sind, die ein Existenzminimum, allerdings nur dieses, darstellt u. etwa 1/4 der Bezüge eines Ordinarius entspricht. Das ist soweit eine Besserung unserer Lage, als wir vielleicht zusammen mit Sommerkurs und Sommer-Vermietung unser Leben werden fristen können, aber natürlich ist das nicht der zehnte Teil unseres Vorkriegslebens – und an Pensionsberechtigung der Frau u.dgl. darf man gar nicht denken.
|3|Curtius, der von Marburg nach Heidelberg geht, hat mir zwei sehr ehrliche Briefe geschrieben: er werde mit aller Energie meine Nachfolge vertreten, da ich an "Originalität und Produktivität" zweifellos voranstehe, er glaube aber, daß meine Chancen nicht besonders günstig seien, einmal wegen des Antisemitismus u. zweitens weil er selbst in der Fakultät in Marburg in der Minorität sei. Anderseits geht heute durch die Blätter eine Notiz, daß die preuß. Regierung aus Ersparungsgründen 5 Universitäten auflösen wolle (u.a. Marburg). Sollte sich das bewahrheiten, so werde ich noch im Alter des Psalmisten Privatdozent sein – was übrigens auch so nicht anders sein wird.
Doch heute ist einem nicht so sehr um das eigene Los weh ums Herz als um das Schicksal dieses armen deutschen Reichs, das von hoher Größe so tief gesunken ist, daß man ihm Stück um Stück vom Leibe hackt und es selbst sich zerfleischt.* (* Natürlich müssen die Juden doppeltes Leid ausbaden: in Berlin zieht man jüdisch aussehende Passanten bis auf die Unterhosen aus!) Was wir hier in den letzten Wochen erlebt haben, ist wohl die tollste Operette, die je die Geschichte vorgespielt hat – nur leider ist es auch ernste Tragödie. Daß 120 |4| bewaffnete Rowdies (Zuchthäusler usw.) gegen den Willen von 100.000 waffenlosen Bonnern das Rathaus besetzen, das französische Militär, von den deutschen Behörden angerufen, sich neutral erklärt u. diese "Neutralität" dadurch besiegelt, daß es die 120 ins Rathaus hineinläßt, diese neue "Regierung" aber nichts tut als Karten spielen u. bei dieser Tätigkeit von Militär bewacht wird, während die Verwaltung von den alten Behörden weitergeführt wird, daß die Fahne der rheinischen Republik, die schon einmal von der wütenden Menge niedergezogen wurde, dann auf franz. Initiative hin wieder gehißt werden mußte – u. daß alles sich hier schon stumpf in den Gedanken ergeben hat, reinster deutscher Boden sei ein für allemal dem Reich verloren – das müßte jedem Anhänger des Rechtsgedankens bis ins Innerste wehe tun, gerade jenen, die wie ich im Kriege gegen die Machinationen der Mittelmächte in Polen und Baltikum sich stets empört haben. Ich habe Briefe mit eingehender Schilderung des Sachverhalts an Jud und Thorn geschrieben, letzterer zeigte mit seiner Antwort, daß die nordischen Zeitungen ganz genau Bescheid wissen; vom ersteren meint M-L, er habe im Kolleg geäußert, "man müsse den Deutschen auf die Brust treten".|5| Wenn das wahr ist, was ich doch nicht glauben kann, dann ist es überhaupt nicht mehr eine Freude, Romanist zu sein. Und tatsächlich hemmt mich auch die doppelte Verzweiflung, an der Welt und an mir, die Produktionsfähigkeit. Ich spüre, daß ich geraume Zeit nichts mehr werde schaffen können. Mit meiner leichten Produktionskraft ist es vorbei.
Auch ist ja das materielle Leben derart anstrengend, daß eine Arbeitsmöglichkeit wie einst kaum vorliegt. Man wird alle 2-3 Tage (wie Taglöhner) ausgezahlt: dazu muß man sich manchmal 1/2 Stunde anstellen, dann heißt es in die Stadt laufen u. irgendwie Franken beschaffen, sonst ist in 3 Stunden schon die Möglichkeit gegeben, daß man nichts mehr für sein Geld bekommt. Um nur einen charakteristischen Zug zu erwähnen, wir erhalten für 3 Tage 1,4 Billionen, aber 1 Pfund Butter kostet 1 Billion! Wieso dies Mißverhältnis zwischen Entlohnung und Preisgestaltung? Die Regierung zahlt nach ihrem Berliner Dollarkurs von 400 Milliarden (augenblicklich), während die Banken hier für den Dollar 2 Billionen rechnen u. die Preise auf diesem Kurs aufgebaut sind.
|6|Ihre Primitiae der Primitiae haben mich sehr erfreut. Die majestätische Aufmachung entspricht der ruhig abgewogenen u. diesmal sehr pädagogischen Darstellung.
Haben Sie meinen Kerr-Aufsatz erhalten?1 Er wird verschiedenen Lesern wegen der Behandlung eines jüdischen Schriftstellers mißfallen. Daß Walzel in Graz leeres Haus hatte, liegt übrigens daran, daß er als Jude gilt – weil er eine Jüdin zur Frau hat.
Theo Rieglers Sprachfehler ist dann stark, wenn er aufgeregt ist. Ich glaube auch, daß dies heilbar wäre, aber Vater Rieglers Pädagogik beschäftigt sich leider weniger mit diesem Problem als mit der Ahndung verschiedener Jugenddummheiten. Theo hat mir übrigens einen Brief versprochen, der bisher nicht gekommen ist.
Vossler hat mir seine "Sprachphilosophie"2 geschickt. Warum hat er nun seinen Opponenten gar nicht Rechnung getragen, dafür aber eine billige Anspielung auf den Versailler Friedensvertrag hineingebracht?
Sehr zweifelnd betrachte ich M-L's Artikel über senior 'Herr' in W.u.S.3 – vor allem steht seine Auffassung schon bei Koffmane, der auch eine andere Entstehung nahelegt, ebenso wie seine Ansicht von clamare bei Hildebrand im Dtsch.WB. – Brøndal hat doch keinen Grund, gegen den Zitaterich zu wettern, der bei ihm selbst sehr stark vertreten ist.
Ergebensten Gruß
Spitzer
1 L.S., "Sprachmischung als Stilmittel und als Ausdruck der Klangphantasie", in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 11 (1923): 193-216.
2 Karl Vossler, Gesammelte Aufsätze zur Sprachphilosophie. München: Hueber 1923.
3 Wörter und Sachen: Zeitschrift für indogermanische Sprachwissenschaft, Volksforschung und Kulturgeschichte.