Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (370-11129)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
25. 08. 1923
Deutsch
Schlagwörter: Antisemitismus Schürr, Friedrich Zauner, Adolf Meyer-Lübke, Wilhelm Körner, Joseph Riegler, Richard Riegler, Theodor Spitzer, Emma Lerch, Eugen Paris, Gaston Ascoli, Graziadio Isaia Mussafia, Adolf Graz Bonn Spitzer, Leo (1922)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (370-11129). Pörtschach, 25. 08. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2216, abgerufen am 07. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2216.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Pörtschach a/See, 25.-28. VIII.
Verehrter lieber Freund,
Ich nehme gern zur Kenntnis, daß die Parallelisierung Schürr – Spitzer nicht "gern-geschehen" war (wenn ich auch keinen großen Unterschied in der Variante "in den Weg treten" erblicke), und möchte bemerken, daß ich Sie nie des "Undanks" angeklagt habe – wenn jemand für geistige Anregung zu "danken" hat, so bin ich es – , sondern der Gleichgiltigkeit gegen das Schicksal eines Freundes, und damit, die Frage der Freundschaft angeschnitten habe. Glauben Sie bitte nicht, daß ich mich etwa für die Arbeit am Brevier, die mich an sich erhoben und gefördert hat, durch positive Gegendienste bezahlt machen möchte, aber was mir bei Ihnen wie bei anderen älteren Gelehrten, die mich "Freund" nennen, gelegentlich kränkt, ist eben dies Sich-Beschränken auf briefliche Wünsche, Lob, Vertröstung usw., das Nicht-auf-den-Tisch-hauen, das Ertragen der Ungerechtigkeit, das Sich-Bescheiden mit dem C'est comme ça, vor allem das Sich-nicht-Hineinversetzen in die Lage des anderen, unglücklicheren jüngeren Gelehrten. Wenn Sie mir sagen, daß Sie bei Ihrer Unterstützung Schnürrs vor Zauner von der Möglichkeit einer Grazer Berufung meiner Person sich nichts träumen ließen, so ist da kein gesundheitliches, sondern nur ein Einfühlungs-Manco anzuführen. Haben Sie sich nicht gesagt,
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|2|durch die Grazer Nennung ein Prä auch in sachlicher Beziehung vor mir bekam und in Deutschland darauf Ansprüche gründen könnte?
Was meine Ihnen unüberlegt scheinende Haltung erklären mag, ist die Tatsache, daß ich so anders bin, wenn ich für jemand einzutreten in die Lage komme. Ohne mich herausstreichen zu wollen, arbeite ich dann mit Volldampf – ungehindert von den Einsprüchen der Egeria, die stets sagt: Du wirst Dir keinen Dank erwerben, Du wirst Dir nur die Finger verbrennen usw. Es gibt dann für mich keine gesundheitliche, menschliche, familiäre Rücksicht. Gerade daß ich à la barbe de M-L das Brevier machte, wird Ihnen doch aufgefallen sein. Ein gewisser "ethischer Fanatismus", den die Christen selten verstehen, meist mißdeuten, gehört zum Eigentümlichen des Juden. Mein Unrecht ist es, diesen Fanatismus von anderen zu verlangen (Meine Anregung bezüglich Ihrer schriftstellerischen Beleuchtung der Judenfrage erfolgte übrigens nicht anläßlich des einen Max. Harden, sondern im Anschluß an die Serie Rathenau – Harden – unbeabsichtigtes Einschreiten gegen Einstein, wie ich glaube auch im Anschluß an jene Ihnen mitgeteilte Pörtschacher Szene).
Gerade in diesen Tagen haben wir solche Probleme mit J. Körner besprochen. Ich habe nämlich die Absicht, Riegler zu veranlassen, seinen Theo (dem er übrigens von Graz so geschrieben hat, als ob sein Universitätsstudium noch gar nicht sicher sei) nicht nach Graz, sondern nach Bonn zu senden, wo die Literaturgeschichte, für die Theo vorwiegend und entscheidend begabt ist, ja ganz anders gelehrt wird als in Graz. Meine Frau und Körner reden mir ab, eine Verantwortung zu übernehmen, mich in Diskussionen mit dem Vater usw. einzulassen – ich glaube, mein inneres Lebensprinzip wird es nicht zulassen, meiner
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|3|Ich weiß auch wohl, daß das, was ich gern bei anderen sähe, in Deutschland selten ist. Der Deutsche spinnt sich ein und seine Freundschaft ruht gut verstaut hinter allerlei Imponderabilien, die er nicht wegräumen kann: vgl. G. Keller, Mörike usw., die wegen eines Freundes nicht imstande waren, 1/2 Stunde Weges zu unternehmen. Ich beobachte die Geheimräte unserer Bonner Fakultät. Nie sieht man zwei Freunde. Die Orest-Pylades-Gruppe ist ganz unbekannt. Sie publizieren dicke Bücher, sie sehen sich in der "Lese"kannegießender oder fachsimpelnder Weise, sie sagen sich in den Fakultätssitzungen Freundlichkeiten, aber innerlich bleiben sie sich fremd. Jetzt ist Brinkmann gestorben – fast niemand hat ihn während seines Krankenlagers besucht.
Sie begreifen aber, daß ich bei meinem unglückseligen Temperament mich nicht wohl fühlen kann, wenn ich stets nur einseitig Liebe ausströmen muß, ohne welche dafür zu erhalten. Solange ich ein Jüngling war, dem es nur um Eroberung einer Romanistenrolle zu tun war, ging das an. Aber nun, nel mezzo del cammin..., möchte ich statt der Worte Taten sehen, statt des Privatbriefes öffentliches Bekenntnis.
Hinzu kommt, was früher nicht vorhanden war, das materielle Moment. Wenn Sie bedenken, daß ich eben die Mitteilung bekam, daß meine Augustbezüge gerade für 10 Pfund Fleisch in Deutschland ausreichen, so werden Sie es verstehen, daß ich Anklagen gegen die Hartherzigkeit nicht nur der Fakultäten, sondern auch aller derer richte, die mir helfen könnten, aber aus noch so wohl erwogenen Gründen nicht helfen. Wenn heute E.Lerch, der mich wohl immer perfid behandelt hat, ins Unglück geriete, ich würde, wäre ich ein Ordinarius, ich schwöre es bei allen Göttern, ich würde ihm helfen.
|4|Ich bin in diesen Tagen mir im Gespräch mit einem so geistreichen und scharfsinnigen, zugleich mir wohlwollenden Menschen wie Körner über manches klarer geworden. Ich selbst weiß ja nicht, wer ich bin und was mir frommt. Körner ist ein stärkerer Charakter: er braucht die Menschen nicht, denn er kennt sie – ich kenne sie, aber ich brauche sie. Mir kommt die armselige Wortklauberei so nichtig vor gegenüber der Pflicht ein Mensch zu sein und für Menschen zu leben. Sie wissen, ich habe immer Ihre Stärke bewundert, allein sein zu können und es dabei auszuhalten.
Was noch meine seinerzeitige Anregung, Sie mögen die Frage des Antisemitismus wissenschaftlich behandeln, betrifft, so möchte ich noch hinzufügen, daß dieses Ansinnen nicht so krausköpfig war wie es Ihnen scheint. Der Schuchardt, der Wissenschaft in die Politik der Nationalitäten getragen hat, der Slawodtsch. u. Slawoital. geschrieben, der die verschiedensten Verleger für Schriften allgemeinen Kulturinteresses gefunden hat, der gewiß der Mann dazu ist, einseitige Information abzulehnen und aufzudecken, braucht nach dem Wie und Wo nicht zu fragen. Zudem erinnerte ich Sie an die edeln Männer G. Paris, Ascoli, Mussafia, mit denen Sie verbunden waren u. deren Erinnerung in Ihnen lebendig ist. Ich meinte damals, nicht durch Gewährenlassen wäre der Antisemitismus zu bekämpfen, sondern dadurch, daß Christen selbst die Sache beleuchten. Wenn Sie mir sagen: ich bin nicht körperkräftig dazu oder: ich will Ruhe haben – à la bonne heure! Aber dann wundern Sie sich nicht, daß es den Deutschen in der Welt nicht besser geht als den Juden in Deutschland. Auch in neutralen u. Ententestaaten wagt niemand auf den Tisch zu schlagen, um sich's mit den Nationalisten des eigenen Landes nicht zu verderben. Auch dort denkt man sich: "Nun ja, die Ruhrbesetzung ist eine Gemeinheit", aber man tut nichts dagegen. Das Schweigen der maßgebenden Intellektuellen der Welt gibt Poincaré freie Bahn – das Schweigen der maßgebenden Intellektuellen Deutschlands begünstigt Hitler.
[Rest fehlt]