Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (367-11126)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
08. 08. 1923
Deutsch
Schlagwörter: Französisch Gilliéron, Jules Meyer-Lübke, Wilhelm Pillet, Alfred Neumann, Fritz Freymond, Emil Brugmann, Karl Friedrich Christian Meillet, Antoine Bertoldi, Vittorio Brüch, Josef Gamillscheg, Ernst Spitzer, Emma Maver, Giovanni (Hans) Amoretti, Vincenzo Riegler, Richard Riegler, Hermann Schuchardt, Hugo (1923) Bertoldi, Vittorio (1923) Gamillscheg, Ernst (1926–1928)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (367-11126). Bonn, 08. 08. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2213, abgerufen am 20. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2213.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Bonn, 8. VIII. 1923
Verehrter lieber Freund,
Ich danke Ihnen für Ihren Solitär-Brief, der als solcher geschätzt wird, und freue mich von einer "Einführung ins Baskische"1 zu hören.
Wird sie aber nicht eher eine "Ausführung" sein (frei nach Gilliéron der so M-Ls "Einführg" bezeichnete)?
Für Ihren Rat in Angelegenheit eines "dicken Buches" danke ich Ihnen bestens. Aber ob er richtig ist? Ich glaube, ich gehöre nicht zum Geschlechte der A. Franz, Pillet, F. Neumann, Freymond, Breymann etc., die es sich leisten können, nichts zu leisten – sondern, wenn ich nichts Größeres mache, wird es heißen: "und außerdem hat er schon längere Zeit nichts mehr gemacht". Und mit dem Verhungern kann ich dem Deutschen [...] auch nicht drohen, da er darüber nur erfreut wäre, wie übrigens manche Fachkollegen auch.
Es freut mich, daß Sie gelegentlich an mich denken. Daß Sie mir nicht helfen könnten, ist sicher nicht richtig. Ich bin ein zu alter Hase im akademischen Leben, um nicht zu wissen, daß gerade die unbefragten Ratgeber gern oft entscheidend wirken. Außerdem ist Ihre Stellung in Deutschland heute eine andere als früher, wo man Ihnen vielleicht da u. dort, in Brugmann und Minny-Kreisen, gram war: heute sind Sie, wie ich neulich Meillet gegenüber polemisch niederschrieb, "de ceux qui dirigent". Und im besonderen Fall hätte die Null F. Neumann auf seinen "Freund" Schuchardt, wie er sie in einer Korrespondenz bezeichnet, gewiß gelauscht. Aber ich sehe sehr gut ein, daß Sie für mich nichts tun können, ohne sich festzulegen, vielleicht zu kompromittieren.
Ich habe viel im Leben erduldet und resigniere nicht.
|2|Oft gehört eine gewisse Langmut dazu. So hat mir neulich Vittorio Bertoldi sein treffliches Opus "Un ribelle nel regno dei fiori"2 mit der hdschr. Widmung "con profonda riconoscenza" zugesandt – aber im gedruckten Text finde ich im Gegensatz zur Erwähnung von Postkarten von lokalen Lehrern, Pfarrern usw. keine Erinnerung daran, daß ich das ganze Ms. durchkorrigiert, ganze neue Teile angeregt, die Unterdrückung anderer veranlaßt habe...
Von dem Brüch'schen sp.etym.Wb. erwarte ich ebenso wenig wie von dem frz. Gammilschegs2: viel Konstruktion, viel mathematische Phantasie, aber nicht jene wirkliche Einfühlung in die Phantasie der Sprache.
Der pyrenäoromanische Melkeimer ist nur mehr ein baskokatalanischer, also von Spanien aus betrachtet, ein irredentischer. Daß die geschickte Melkerin wider Willen in einen politischen Gärbottich hineingestiegen ist, wird er zu spät merken.
Der Ferienkurs war zwar nicht lukrativ, aber kulturell sehr schön. Meine Frau und Maver sind voll des Lobes über die taktvoll-vornehme Art der Nordländer, die mit erfrischender Deutschfreundlichkeit und Rücksicht für unsere gefährdete Lage Humor und Frohsinn verbanden. Maver wird wohl Mussolini keine Botschaft künden, da er selbst wie alle Italiener plötzlich sein Inneres fascistisch umgestülpt hat: ich verstehe schon nicht das Umfallen eines Einzelmenschen unter dem Eindruck politischer Ereignisse – aber noch weniger, daß eine ganze Nation anbetet, was sie verbrannt hat u. viceversa. Maver's Argument, wenn man gegen Italiens Übergriffe spricht, ist stets: warum schreit man nicht mehr gegen Tschechien, Südostasien usw.? – also das Argument des Räubers, der sich als "Kleinrentner" gegenüber den Magnaten seines Gewerbes entschuldigt. Ganz genau so antwortet Amoretti, unser Bonner Lektor. Übrigens ist Maver sonst stets eine Herzensfreude für mich: dieses in sich gegründete Auftreten, diese Genialität im Meistern des Lebens usw.
Wenn Sie Riegler sehen, wo wäre es m.E. richtig, ihn vor Unterschätzung seines jüngeren Sohnes Theo zu warnen. Er bezeichnete ihn mit Ausdrücken wie "der Unwürdige", weil er die Matura nicht glänzend bestanden hat, sieht aber nicht den köstlichen Kern, die phantasievolle Neigung zu Selbstverständlichem, künstlerisch gefärbtem Lebensgenuß in dem jungen Menschen.
[Zeile im Original entfernt]
Hermann Riegler hatte von Maver und mir schwere Entrüstungsstürme auszuhalten, die er mit Bege[...] für seinen Lehrer zurückwies. Noch nie sah ich so edel für eine unedle Sache kämpfen.
Ergebenste Grüße
Spitzer
1 H.S., Primitiae linguae Vasconum: Einführung ins Baskische. Halle a.S.: Niemeyer 1923.
2 Vittorio Bertoldi, Un ribelle nel regno de' fiori. I nomi romanzi del Colchicum autumnale L. attraverso il tempo e lo spazio. Genf: Olschki 1923.
2 Ernst Gamillscheg, Etymologisches Wörterbuch der französischen Sprache. Heidelberg: Winter 1926-28.