Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (364-11123)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

30. 03. 1923

language Deutsch

Schlagwörter: Berlingske Tidende Universität Bonnlanguage Italienisch Richter, Elise Much, Rudolf Meyer-Lübke, Wilhelm Maver, Giovanni (Hans) Nyrop, Kristoffer Bosch-Gimpera, Pedro Lollis, Cesare de Lerch, Eugen Vossler, Karl Kammerer, Paul Behrens, Dietrich Schultz-Gora, Oskar Spitzer, Leo (1922) Mulertt, Werner (1922) Puşcariu, Sextil (1922) Küchler, Walther (1922) Wallensköld, Axel (1922) Lerch, Eugen (1922) Spitzer, Leo (1924)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (364-11123). Bonn, 30. 03. 1923. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2210, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2210.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 30. III.

Verehrter lieber Freund,

Ich gestehe Ihnen deshalb nicht die "Schonzeit" zu, weil ich Sie nicht zu den 81jährigen rechne und weil Ihre Arbeiten den Cachet eines Jünglings tragen – anderseits weil Sie wissen, daß ich als vorzeitiger Greis einiges Anrecht auf Korrespondenzempfang habe. – Der Artikel in der orientalist. Zeitschr. ist von H. Sch., nicht von M.C. unterzeichnet, daher glaubte ich auf ihn Anrecht zu besitzen. – Für tachinieren wollte ich keine Wörterbücher-Auszüge, sondern nur Ihre persönlichen Erinnerungen gern hören. "Maski", sagt man im Orient als Ausdruck der Resignation.

Ich bin über den Konflikt von El. Richter mit Much nur durch Sie unterrichtet, aber wenn jene die zitierten Worte geschrieben hat, so hat sie der von ihr verteidigten Sache mehr geschadet als genützt. Der Polemiker, der gegen Vorurteile zu Felde zieht, muß sachlich im Rechte sein. Im übrigen beklage ich, daß ihre Erfahrungen in ihren alten Tagen sie zu ihrer Haltung bringen: denn El. Richter war ursprünglich eher judenfeindlich, sie ist ja selbst katholisch erzogen worden (oder so ähnlich) und äußerte stets zu mir, wie wenig sie für die Juden übrig hätte.

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Das Neuste ist, daß M-L für ein Semester Urlaub genommen hat, um in Barcelona aus "nationalen und wirtschaftlichen" Gründen Vorträge zu halten, und mich als Stellvertreter der Fakultät und dem Ministerium vorgeschlagen hat. Dies kann ich natürlich nicht zurückweisen, obwohl er durch sein Vorgehen, das mich ganz unbefragt ließ, mir einen empfindlichen Schlag zugefügt hatte: ich hatte nämlich ein paar Wochen früher die Prospekte zu einem im Juli von Maver und mir zu haltenden Pörtschacher Italienisch-Kurs für Skandinavier ausgesandt und u.a. Nyrop um Empfehlung gebeten, der auch tatsächlich in Berlinska Tidende einen Artikel geschrieben hat, worauf schon Meldungen eingetroffen sind. So hoffte ich unsere Finanzen endlich zu sanieren. Nun kommt diese Sache, die mich bis August hier zu bleiben zwingt u. mich noch im Unklaren läßt, wie ich mich den Ausländern gegenüber verhalten soll. Auch ist noch sehr fraglich, ob ich für den M-L–Ersatz bezahlt werde. – M-L ist durch Bosch-Gimpera in die Prähistorie hineingelangt, was, wie ich glaube, eine weitere Versteinerung seiner Historik hervorrufen wird.

Kennen Sie einen Prof. B. Migliorini in Rom? Dieser |3|hat in der De Lollis'schen Cultura einen von italienischen Materialien strotzenden Artikel panegyrischer Art über meine Epizöna geschrieben. Kamen Ihnen ferner die Rezensionen des Sch.-Breviers im Lit. Ztrbl. Heft 40 (Mulertt), ferner das der Dacor. ( Puşcariu), Neuere Sprachen (Küchler), Neuphil.Mitt. ( Wallensköld) vor Augen?

Sehr unliebsame Erfahrungen machte ich mit den Münchner Messianern (ich weiß nicht, ob ich Ihnen das schon berichtete?) Ich schickte die Papiere meines Hörers Dr. Jordan aus Iaşi auf dessen Bitte an Lerch, damit er sich für Jordans Immatrikulation einsetze, erhielt diese aber bald zurück mit der Frage, ob ich wirklich so naiv gewesen sei, zu glauben, daß ein Rumäne in München immatrikuliert werden könne ( a.), um so mehr als er offenbar, dem Namen nach, Jude sei (ich antwortete dann sei der Geschichtsschreiber Jordanes auch Jude gewesen!). Vossler stünde übrigens auch auf diesem Standpunkt (nämlich (a.)) – und gleichzeitig schreibt dieser [gelöscht] gegen den Nationalismus erleuchtete Vorträge! Ich werde aus dem Charakter dieses so gescheiten Menschen immer weniger klug.

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Haben Sie weiter die schnoddrigen Worte gelesen, mit denen Lerch am Schluß seines Artikels über das Impf. in der Ztschr. meinen brieflichen Hinweis auf einen ihm unbekannt gebliebenen Artikel von mir meine (brieflich geäußerte) Ansicht, nicht diese Abhandlung selbst abtut? Das ist schon der Gipfel perfider Polemik.1

Die hiesige Universität, die vor etwa 8 Wochen stark für ihren Weiterbestand besorgt war, ist etwas ruhiger geworden, obwohl viele Ordinarien geistig ihren Koffer schon packten. Aber aus Kreisen der Stadtverwaltung, der Mittelschule, der Eisenbahner und Zollbeamten dauern die Ausweisungen fort "Povero secolo".

Kammerer berichtet, ihm werde eine Oberlehrerstelle in Hamburg angeboten u. er studiere für die Lehramtsprüfung – auf seine alten Tage, anstatt zu experimentieren! Das oder ähnliches wird wohl auch das Schicksal eines gewissen Spitzer sein.

Ich habe jetzt wieder eine Motiv- und Wort-Studie sur le chantier: die Sprache Jules Romains'.2 Höchst interessant, aber nichts für Leute à la Behrens und Schultz-Gora, ohne "Schau", wie es jetzt heißt.

Übrigens: neulich hatte in der Frkf. Ztg. jemand die geringe Fähigkeit zur "Schau" bei den Linguisten beanständet. Worauf ein F.D. [= F. Dörr?] antwortete, der Einsender kenne offenbar nicht die Arbeiten Schuchardts, Vosslers, Spitzers [in dieser Reihenfolge].

Herzlichst

Spitzer


1 Lerch schreibt einen kleinen auf Spitzer bezüglichen Nachtrag zu seinem in der Zeitschrift für romanische Philologie 1922 in zwei Teilen erscheinenden Artikel "Das Imperfektum aus Ausdruck der lebhaften Vorstellung" (hier S. 425), in dem er eine Mitteilung Spitzers über die "künstlerische Manier", die aus Reimgründen auch Tempora verändern kann, etwas ironisch aber letztlich ohne Argument abtut.

2 L.S., "Der Unanimismus Jules Romains' im Spiegel seiner Sprache. Eine Vorstudie zur Sprache des französischen Expressionismus", in: Archivum Romanicum 8.1-2 (1924): 59-123.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11123)