Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (360-11212)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
1922
Deutsch
Schlagwörter: Antisemitismus Urtel, Hermann Lewy, Ernst Körner, Joseph Meillet, Antoine Brunot, Ferdinand Vossler, Karl Spitzer, Emma Wien München Zürich
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (360-11212). Bonn, 1922. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2206, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2206.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
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Die Urtel beschäftigende Form heißt polletón, 'der Ort, wo die alten Jungfern nach dem Tode sitzen'.
E. Lewy ist ein sehr interessanter Mensch, voller Ideen, nur allzu paradox. Der ist wahrhaft "dangereux".
Körners Artikel habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen.
Meillets Besprechung befriedigt mich, o ja! Sie ist in der Rev. crit. erschienen und liegt bei. Bitte um Rückschluß.
Mit Brunot habe ich verschiedene Bücher getauscht, aber auf eine ganz zarte Erinnerung hin, wie ich s.z. an seinen Pariser Vorlesungen Interesse genommen hätte, folgte die kalte Dusche: "Ce n'est pas notre faute si les savants des deux nations ne peuvent plus fraterniser comme autrefois". Worauf ich sehr energisch repliziert habe.
Vosslers Antwort auf meine Kondolenz zeigt einen sehr gefaßten, innerlich aufrichtigen, tief aufgewühlten Menschen, der in diesem entsetzlichen Augenblick der Phrase aus dem Weg geht. Das spricht sehr für ihn. Es ist aber doch schrecklich zu denken, daß da ein Mensch, der mehr als 20 Jahre mit einem alles geteilt, nun draußen liegen soll, in der kalten Erde, fern dem Kreis, in dem er tätig gewesen ist. Ich kann an so was nur unter |2|Tränen denken. "Wie ist doch alles in diesem Leben so unvollkommen!", das hat meine Frau schon oft gerufen.
Die Politik sieht wieder sehr arg aus. Besonders auf das Rheinland scheint es abgesehen zu sein. Hier wird es einem wesentlich leicht gemacht, national zu sein. In Wien, Prag oder München wäre es mir wohl sehr viel schwerer. Sie nennen den Antisemitismus mit Recht "töricht". Statt daß die Randdeutschen, z.B. in Tschechien, sich zu gemeinsamer Abwehr gegen das Slaventum einigten, bieten sie dem frohlockenden Dritten das Schauspiel der Selbstzerfleischung. Ich muß immer an das Urteil einer in Zürich lebenden Wienerin denken: "Man möchte so gern die Deutschen in ihrem Unglück lieben, aber sie machen es einem schwer."
Über Mussolini bin ich ehrlich empört. Die Italiener hätten allen Grund, sich von der französischen Ägide zu befreien. Die nationale Muskulatur, die er seinem Lande geben will, ließe sich durch innere Heilmittel besser erreichen als durch Expansion und Knechtung anderer.
Herzlichste Grüße von Ihrem ergebenen
Spitzer