Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (354-11114)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
28. 09. 1922
Deutsch
Schlagwörter: Katalanisch Pogatscher, Alois Dauzat, Albert Tuttle, Edwin Hotchkiss Steiner, Herbert Navarro Tomás, Tomás Gavel, Henri Gamillscheg, Ernst Gilliéron, Jules Trombetti, Alfredo Nyrop, Kristoffer Lerch, Eugen Schürr, Friedrich Meyer-Lübke, Wilhelm Vossler, Karl Wien Beinhauer, Werner (1923) Steiner, Herbert (1922) Sainéanu, Lazare (1922–1923) Nyrop, Kristoffer (1922) Schranka, Eduard Maria (1905)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (354-11114). Pörtschach, 28. 09. 1922. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2198, abgerufen am 31. 05. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2198.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Pörtschach, 28. September
Verehrter lieber Freund,
Das war einmal ein lieber, langer, vielseitiger Brief. Er soll deshalb bald beantwortet werden, weil wir am 7. vor der großen Bahntariferhöhung über Wien nach Hause fahren und mich so hier noch eine Antwort treffen kann, in Wien aber an Schreiben nicht zu denken ist.
Vor allem Dank für mā fīš, ferner für die Nachricht über die Auffassungen Pogatscher's, den auch ich als einen vornehmen Menschen nach der Einleitung zu der ihm gewidmeten Festschrift kennengelernt habe.
Ja, "Umgangssprache"! Wirklich Gehörtes ist noch selten (z.B. in Franz's Arbeit über lothring. Syntax) einer syntaktischen Arbeit zugrundegelegt worden, weil die Systematik kaum herzustellen und die Zufallsergebnisse des Hörens jahrzehntelang abgewartet werden müssen. Ein Schüler von mir arbeitet jetzt an einer Dissertation "Beiträge zur span. Umgangssprache",1 die sich auf ein wirklich gehörtes Tatsachenmaterial stützt. Für uns Kontinentaleingesperrte gibt es nur den Umweg über Bücher, die volksmäßige Sprache nachahmen, natürlich ein pis-aller.
Die Krüger'sche Besprechung, wenn auch gerecht und wohlwollend, bringt weder sachlich, noch methodisch Neues. Die Erscheinungen, die er hinzufügt, habe ich meist an anderem Orte besprochen. Belustigt hat mich das "desatiende obstinadamente" (die gesprochene Sprache) – nun, die obstinación, kein Spanisch an der Quelle zu hören, ist bei mir nicht groß. Wenn ich wie Krüger drei - vier |2|Reisen auf Kosten der Hamburger nach dem Eldorado machen könnte! Dabei ist mir eingefallen, ob ich nicht die deutsche Notgemeinschaft bei der Appel die Romanistik vertritt um eine Unterstützung für eine solche Osternreise anbetteln sollte – aber der Gedanke, daß 100.000 M allein für 14 Tage notwendig wären, hält mich davon ab.
Von Garcia de Diego's Tätigkeit halte ich nicht allzu viel, mag er auch ein Kenner der span. Maa. sein. Viele von den cruzes sind einleuchtend. Daß Dauzat die Kontaminationsannahme als "méthode allemande" bezeichnet hat, wunderte mich s.z. sehr.
Ich kenne nur The Romanic Review,2 eine amerikanische Zeitschrift, in der Lang, Tuttle und sehr viel minora sidera publizieren. Ich besitze davon die Vorkriegsbände.
"Endgiltiges" Verlassen der Romania? Sie schrieben mir das schon einmal vor 10 Jahren. Nun, ich glaube, Sie werden stets von attraktiven wie repulsiven Kräften der Romania gegenüber gelenkt. Sie umkreisen die Romania, ob Sie wollen oder nicht. Sie arbeiten gern auf Randgebieten. Sie sehen wie Moses einerseits das ungelobte, anderseits das gelobte Land – und Sie betreten beides! Das hat ja m.a.W. Steiner in seinem Huldigungsartikel3 hübsch gesagt.
Büchermangel quält uns doch alle! Wenn ich darum von der Romanistik ablassen sollte! Was hat man jetzt alles nicht! Sie fragen mich über Navarro Tomás – non lo conosco, aber ebensowenig seinen Konkurrenten Gavel. Sainéan läßt jetzt 2 Bände über die Sprache Rabelais' erscheinen,4 die für mich doch wesentlich wären – mā fīš!
|3|Ich verurteile Gamillschegs Arbeit eben deshalb, weil er sich weniger um "Sache und Wort" als um "Wort und Wort" kümmert: d.h. alle möglichen Wörter müssen erst wie bei Gilliéron Kämpfe liefern, damit ein 'Kumpf' als 'vagina' oder 'cucurbita, napus' etc. benannt werde.
Trombetti – nichts! Wahrscheinlich postalische Verirrung.
Nyrops Büchlein5 sehr anspruchslos. Und diese wortlose Verwebung meiner lazzaretto – ghetto, mit "Namensverschweigung".
Ich glaube auch, daß piccolo wienerisch ist, schon weil die Hierarchie Oberkellner – Markeur (Speisenträger) – Piccolo wienerisch ist. Ähnlicher Fall der Bildung einer Benennung aus einem Wort, das man im Munde des Benannten gehört haben mag, ist Salamu[…] für den 'Salamiverkäufer in den Wiener Prater Restaurants'. Haben Sie im Wiener Dialekt Lexikon von Schranka6 nachgesehen?
Ich schließe in diesen Tagen einen Vertrag mit einem Münchner Verleger ab: Herausgabe eines katalanischen Textes von dem modernen Novellisten Ruyra, etwa 200 S. mit Wb., Kommentar etc. Herausgeber ist Lerch.7
Schürr freut sich wahnsinnig über den Vorschlag der Fakultät und hat die Berufung schon fürs Wintersem. erwartet. Er ist ein netter, anständiger […] Mensch. M-L schrieb ihm über seine letzte Schrift, er sei zu alt, um die geistige Wendung mitzumachen, die Schürr da schildere. Vosslers Buch sei voller Verkehrtheiten.
Herzlichste Grüße und alles Schöne von uns drei
Spitzer
1 Werner Beinhauer, Beiträge zur Kenntnis der spanischen Umgangssprache (Dissertation in Bonn vom 9.8.1923); Auszug in: Jahrbuch der Philosophischen Fakultät Bonn 1.2 (1924): 47-49.
2 Die Zeitschrift wird seit 1910 von der Columbia University, New York, herausgegeben.
3 Herbert Steiner, "Zu Hugo Schuchardts 80. Geburtstag", in: Zeitschrift für romanische Philologie 42 (1922): 1-4.
4 Lazare Sainéanu, La langue de Rabelais dans ses rapports avec la civilisation de la Renaissance et les écrivains des XVe et XVIe siècles. 2 Bde. Paris: de Boccard 1922-23.
5 Wahrscheinlich: Kristoffer Nyrop, Italienske Ord i Dansk. Kopenhagen: Høst 1922.
6 Eduard Maria Schranka, Wiener Dialekt-Lexikon von Dr. Eduard Maria Schranka. Wien: Szelinski 1905.
7 Die Werke Joaquim Ruyras sind sämtlich in Barcelona verlegt; das Projekt scheint nicht zustande gekommen zu sein.