Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (352-11112)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

20. 09. 1922

language Deutsch

Schlagwörter: language Rätoromanische Sprachen Spitzer, Emma Hubschmied, Johannes Ulrich Lacombe, Georges Lewy, Ernst Hilka, Alfons Pillet, Alfred Stimming, Albert Meyer-Lübke, Wilhelm Schürr, Friedrich Vossler, Karl Gamillscheg, Ernst Brunot, Ferdinand Bonn Schürr, Friedrich (1922) Gamillscheg, Ernst (1922) Brunot, Ferdinand (1922)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (352-11112). Pörtschach, 20. 09. 1922. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2196, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2196.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach, 20. IX.

Verehrter lieber Freund,

Dank für Ihren Brief, über den ich mich in keinem Punkte ärgern kann. Im Gegenteil, ein aufrichtiges Wort ist mir immer lieber als ein verklausuliertes.

Meine Egeria scheint sich ja mit Ihnen in dem, was ich die "desillusionierte" oder "entgeisterte" Welt- und Menschenbetrachtung nenne, zu berühren. Meine eigene ist aber die "enthusiastische" oder "vergötternde" und ich gebe gern zu, daß sie mir viel Pein bringt. Alle Neigungen bei mir haben etwas von Verliebtheit, auch solche und gerade solche zu Männern, die ich verehre oder schätze. Die übrigen Menschen aber, nüchterner als ich, erscheinen mir dann leicht banal und prosaisch. Meine Frau erwartet nicht viel von den Menschen – aber dafür hat sie auch nicht die Genüsse an den fremden Persönlichkeiten, deren ich mich rühmen kann.

Eines aber kann ich besonders nicht verwinden: die Ungroßmut, ja den Undank. Egeria sagt: "Du willst immer die Menschen beglücken. Wer will Dir etwas Gutes tun? Ist Dir einmal etwas, schert sich kein Teufel um Dich". Sie schreibt [...]

[Der untere Teil des Blattes wurde abgeschnitten]

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[...] brauchen nichts zu erwidern. Er hat bloß seinen Polykratesring abgezahlt. Wobei ich "geben" natürlich wieder vor allem seelisch zu fassen bitte.

Gerade in Pörtschach, wo uns durch den Zufall der herrlichen Lage des Vatererbes gegeben ist, auch in diesen Zeiten Freunden eine Erholung zu bereiten, ohne ihnen materielle Opfer über ihren Normalgebrauch hinaus aufzuerlegen, haben wir nicht selten gesehen, daß "Freunde" beglückt mit uns die Tage verbrachten, dann aber nicht mit dem Gefühle schieden, daß meine Frau sich zu allen ihren eigenen Sorgen noch die einer Pensionsführung ohne persönlichen Vorteil aufgebürdet hat, und gar Gefühle des Neides gegen mich als Besitzer dieses letzten Restes alter Pracht aufkamen. Wie soll man da nicht verstimmt sein gegen die Menschen!

Dann zuckt natürlich die Magnetnadel. Dies ist Ihnen gegenüber, das möchte ich betonen, nie der Fall. Ich weiß, daß Sie mir stets etwas "geben", eben durch Ihre Weisheit und Erfahrenheit, und daß das unendlich mehr ist als was ich armer Wurm Ihnen leisten konnte oder je können werde.

Nur in der Sache jener Danksagung geht Egeria mit mir.

[Rückseite des abgeschnittenen Teils]

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[...]haben Sie das nicht absichtlich getan, aber praktisch ist dann doch etwas wie ein Sich-nicht-Bekennen herausgekommen. Und das hat mir wehgetan. Demgegenüber sind die Äußerungen Hubschm. und Lacombes belanglos und ich habe da nur "Nachwehen" verspürt.

Werfen Sie mir bitte nicht langweilige Kleinlichkeit vor – meine Lage ist nicht beneidenswert und ich weiß, daß ich von meinen Freunden bei den gegenwärtigen Verhältnissen einen Heroismus verlange, der bei anderen Freundschaften normalerweise nicht gefordert wird.

Eine derartig "heroische" Anforderung war ja auch die Stellungnahme zu Rathenau. Wer um sich als normale Ansicht hört, es sei gut, daß man "solche Elemente" umbringe (daß Einstein auch auf der Mordliste stand, wissen Sie ja wohl!), erwartet natürlich rückhaltlose Verdammung solcher Taten von seinen nächsten Freunden. Bei Rathenau war es ja so, daß die Kumulierung von Judentum, Pazifismus, Demokratie ihm den Tod brachte: Jude kann man sein, Pazifist kann man sein, Demokrat kann man sein – aber alles drei auf einmal? In Bonn sollte einmal ein jüdischer, russisch abstammender linksgerichteter Mathematiker vorgeschlagen werden: "Das ist zu viel", sagte die Kommission.

Ich habe nie jene Scheingründe mitmachen können, mit denen man befähigten Mißliebigen den wissenschaftlichen Prozeß macht: die Formfehler E. Lewys, die ich kenne, würden bei einem Nicht-Löwy nicht eine definitive Ausschaltung zur Folge gehabt haben. Oder bleiben wir bei unserem tadellosen Romanisten E. Levy! Warum ist dieser Toblerianer edelsten Geblüts, der mindestens so talentiert und wissensreich war wie Ebeling, Lommatzsch, Hilka, Pillet, Schultz-Gora, Stimming und ein bleibenderes Werk als diese geschaffen hat, nie Ordinarius geworden? Ich höre noch die Antwort, die mir M-L auf diese Fragen gab: "Er ist zu einseitig gewesen". (!) Dabei las er sogar über Rätoromanisch. |4|Ein anderes Argument war sein Reichtum – aber ich habe nicht gesehen, daß Reichtum sonst ein Argument gegen die Verleihung eines deutschen Ordinariats bildete. "Er wollte es selbst nicht" – wahrscheinlich wollte er nicht mehr, was er für sich als unerreichbar hielt. Also...?

Schürr hat mich gestern besucht. Er ist also tatsächlich als einziger vorgeschlagen. Auch Ihnen für Ihre Intervention herzlichen Dank. Seine Schrift über Sprachw. u. Zeitg.1 habe ich sehr lobend fürs Lbl. besprochen, werde aber damit bei M-L kein Glück haben, der ihm sein Mißfallen an dem Einlenken in Vosslersche Bahnen ziemlich deutlich ausgedrückt hat.

In dem "Wetzstein-Kumpf" Gamillschegs,2 in den, wie ich glaube, schon die nächste Generation eine der monströsesten Verirrungen einer rationalistischen Sprachauffassung sehen wird, hat mich vor allem ein Urteil frappiert: eine Arbeit von Platz wird da "ideenreich, aber unhistorisch" genannt. Was soll das heißen? Gibt es nicht Ideen über die Geschichte (siehe Herder)? Gibt es noch etwas Höheres in der Wissenschaft als Ideen? Der Gedanke des Autors ist wohl der, daß die Sprachgeschichte (und zwar eine bestimmte, die konstruktive, Betriebsart) das Höchste ist.

Brunots Riesenwälzer "La pensée et la langue" (1000 Seiten) habe ich Gottlob zu Ende gebracht. Ein Riesenrahmen ohne Inhalt. Sehr hübsch dagegen Jespersen's i-Studie.

Nun nehmen Sie mir bitte meine altjungferlichen Quengeleien nicht übel. Sie entstammen dem verdorbenen Magen, den ich mir beim Wiederkäuen meiner Lage immer von neuem hole. In meiner Antwort auf Ihren nächsten, hoffentlich bald eintreffenden Brief will ich dann trachten, möglichst wenig von mir zu sprechen.

Herzlichste Grüße von uns dreien

Spitzer


1 Friedrich Schürr, Sprachwissenschaft und Zeitgeist. Eine sprachphilosophische Studie. Marburg: N.G. Elwert 1922.

2 Ernst Gamillscheg, Wetzstein und Kumpf im Galloromanischen. Genf: Olschki 1922 (Sonderdruck aus: Archivum Romanicum VI.1).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11112)