Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (349-11110)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

04. 08. 1922

language Deutsch

Schlagwörter: Jud, Jakob Meyer-Lübke, Wilhelm Gilliéron, Jules Frings, Theodor Schuchardt, Hugo (1921) Schuchardt, Hugo (1921)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (349-11110). Bonn, 04. 08. 1922. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2193, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2193.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 4. VIII.

Verehrter lieber Freund,

Es handelte sich nicht um Ihre, sondern um meine Deutschnationalität. Ich hatte eben Ihr deutsches Wesen betont. Ich glaube, Ihr Standpunkt kommt zu klarem Ausdruck. Man sieht bei solchen Gelegenheiten, wie wenig "neutral" die Edelsten unter den Neutralen sind. Auch Jud ist zu sehr romanophil. Also schütteln Sie bitte beruhigt Ihren Floh ab! Ich stimme ja mit Ihnen vollkommen überein, daß von den Begriffen Rasse, Staat, Kultur, Volk der blutvollste und herzvollste der letzte ist. Ich habe nie verstanden, wie man das negerhaft animalische Wort "Rasse" als Kitt empfinden konnte – was habe ich z.B. mit einem Leopoldstädter Schieber gemein? –, wie man den Staat, einen reinen Zweckbegriff mit Gefühlswerten ausstatten konnte – wie in Preußen [stimmen Sie mir hier auch zu?], wie man die Kultur als etwas Ichmäßiges, Egoistisches voranstellen kann – wie es die Wiener gern tun.

Handelt es sich um |2| dokdo oder doudo?1 Gegen M-Ls doudo widersprach ich ja auch. Seinem Artikel dod- übrigens auch demnächst.

Indasno: welche "Sirene" (M-L) ist nun die betörendere, die des Semantischen (îndar das nicht westrom ist etc.) oder des lautlichen Gleichklangs: darn-ir, exdarnatus?

Mich hat diese Sirene berückt.

Die Gilliéronschen Leitgedanken sind genau so gut auf deutsches Gebiet übertragbar u. sind von meinem Bonner Freunde Frings an Hand des Wenckerschen Atlas faktisch auf das Rheinische übertragen worden (vgl. seinen prinzipiellen Aufsatz in der letzten Zs.f.d.Mundart.) – Was halten Sie von coqueluche?2

Nächste Tage erwarten wir eine Reihe von Gästen – das Einzige, was mir jetzt Spaß macht!

Herzlichste Grüße

Sp.


1 Zu port. doudo, doico vgl. H.S. in Zeitschrift für Romanische Philologie 40, 604ff.

2 Vgl. H.S., "coqueluche", in: Zeitschrift für Romanische Philologie 40 (1921): 513f.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11110)