Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (346-11107)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

19. 07. 1922

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Würzburg Brüch, Josef Körner, Joseph Gamillscheg, Ernst Wagner, Max Leopold Hilka, Alfons Vossler, Karl Lerch, Eugen Meyer-Lübke, Wilhelm Pușcariu, Sextil Oehl, Wilhelm Schrijnen, Josef Urtel, Hermann England München Bonn Spitzer, Leo (1922)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (346-11107). Bonn, 19. 07. 1922. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2190, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2190.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 19. VII.

Verehrter lieber Freund,

Eigentlich sollte ich auf meinem Schein bestehen u. einen schönen langen Brief verlangen. Nicht nur, weil ich Ihr Urteil über die "Miscellanea" hören wollte und speziell über meinen Artikel sowie Brüchs Unglaublichkeiten (daß man, statt Front zum Jubilar zu machen, nach seitwärts Hiebe führt, ist wohl unerhört für einen Gratulanten), auf welch letztere ich energisch replizieren werde. Vor allem aber, weil Sie wußten, was der Mord an Rathenau für Gedanken in mir erwecken mußte u. weil eine Stellungnahme irgendwelcher Art in diesem Fall erfolgen mußte (Sie schrieben im Krieg öfters, sie könnten des Vaterlandes wegen nichts anderes denken als an das, was uns alle bewegt – ist jetzt nicht das Höchste des Vaterlands bedroht, sein moralisches Niveau und seine Einheit?). Endlich, weil Sie wußten, daß ich allein und von den Lieben getrennt bin u. mir ein Lebenszeichen erwünscht |2|war. Also, das ist mein "Schein", auf den ich nun verzichte.

In 10 Tagen reise ich eilends zu den Meinen, die nach fürchterlicher Reise (mit gelegentlichem Verweilen im Massenquartier, Zugsversäumnissen etc.) sich sehr wohl befinden. Hier hat unterdes ein tolles Leben begonnen, es kamen Besuche über Besuche: Josef Körner, Gamillscheg, der nach England durchreiste, ferner 50 holländische Studenten, vor denen ich einen Vortrag über "Sprachwissenschaft und Zeitgeist" hielt, der mir große Freude machte, ein holländischer Privatdozent Cloeke etc.

In Würzburg lautet der Vorschlag: Heiss, M.L.Wagner, Hilka. Vossler hat also seinen Lerch nicht durchsetzen können; soviel er sich auch bemühte, er wurde a limine abgelehnt: das kommt von dem übermäßigen Lob. Heiss, der in Wburg selbst Privatdoz. war, wird vielleicht hingehen, um ein Sprungbrett für München zu besitzen.

In Bonn haben mir die Germanisten nun ernstlich gesagt, daß ich sicher sein könne, auf die Liste zu |3|kommen, wenn einmal der Bonner Lehrstuhl vakant sei. Ein Bewerber sei auch Gamillscheg, aber die Regierung würde wohl mich vorziehen. Aber das ist Zukunftsmusik. Unterdes hat Walzel in einem Gelehrtenkränzchen meine stilistischen Arbeiten über den grünen Klee gelobt, vor M-L, der darüber Gesichter gezogen haben soll. Meisner meint, es werde der Zeitpunkt kommen, wo man nicht über mich hinweg könne. Quousque tandem? Die Beziehungen zu meinem Lehrer werden immer kälter, ja feindlicher. Ich spüre, wie in mir alles hart wird. Schrecklich!

Ich denke jetzt an die Gründung einer Zeitschrift "Die Wortkunst" mit Walzel zusammen und stehe in Unterhandlungen mit einem Verleger. Vielleicht gelingt es uns, auch von Ihnen eine primeur in der Art Ihres Euphorion-Aufsatzes zu erhalten. Aber bitte darüber vorläufig noch nicht weiter zu sprechen.

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Gamillscheg hat im letzten Ztschr.-Heft mit seiner Erklärung am Schluß eine Perfidie begangen, die ich ihn im nächsten Heft gutzumachen gezwungen habe. Trotzdem ich von seinen feindlichen Gefühlen gegen mich überzeugt bin, kann ich nicht umhin, ihn zu schätzen und ihm innerlich warm gegenüberzustehen. Bemerkenswert auch sein wissenschaftliches wie menschliches Abrücken von M-L, wo er doch sozusagen eine Miniatur von M-L ist.

Die Puşcariu'sche Schrift über die Lautgesetze hat auch mit mir etwas zu tun: ich habe ihm nämlich das von Ihnen überlassene Exemplar zur Verfügung gestellt, nachdem es im Brevier aufgenommen war.

Mit Öhl habe ich korrespondiert und ihn auf Ihre Äußerungen über farfalla, die er sonderbarerweise ebenso vergessen hatte wie ich anläßlich meines Archiv-Artikels, und auf Schrijnen's Vlindernamen aufmerksam gemacht.

Hier sind die materiellen Verhältnisse schrecklich – ich verfasse heute noch einen Notschrei ans Ministerium. Mit 28.000 M Lehrauftrag u. den Zinsen meines Vermögens kann ich nicht leben. Nun hoffe ich auf baldige Nachricht nach Pörtschach, wo ich am 30. spätestens eintreffe. Urtel kommt gegen 15. dorthin.

Herzlichst

Spitzer

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11107)