Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (328-11089)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
Unbekannt
1922-01
Deutsch
Schlagwörter: Sprachphilosophie Jud, Jakob Hilka, Alfons Meyer-Lübke, Wilhelm Urtel, Hermann Wagner, Max Leopold Schultz-Gora, Oskar Vossler, Karl Ive, Antonio Schürr, Friedrich Battisti, Carlo Sandfeld, Kristian Graz Dänemark Schuchardt, Hugo (1903) Schürr, Friedrich (1917) Schürr, Friedrich (1918)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (328-11089). Unbekannt, 1922-01. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2159, abgerufen am 26. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2159.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Verehrter lieber Freund,
Dank für beide Briefe, die ich durchaus richtig zu verstehen glaube. Gewiß, die Jugend kann sich in das Nochnichterlebte schwerer hineindenken als das Alter ins Einsterlebte – aber ich glaube durch den Verkehr mit meinem 70jährigen Vater sehr viel Einblick in die Psychologie des Alters erhalten zu haben. Wenn ich Sie trotzdem mißverstanden habe, so lag es an etwas rein äußerlich Chronologischem.
Ihre 1903 ausgesprochenen Ansichten kannte ich – ich gestehe es – nicht im Zeitpunkt jener beabsichtigten Werbeaktion 1921. Erst auf Ihren Hinweis hin und im Verfolg des Plans des Breviers las ich die "AZ".1Daher konnte ich Ihr Abwinken nur als ein definitives fassen. Auch Jud hatte, wie mir schien, von Ihrem Artikel keine Ahnung, jedenfalls war er überrascht, als er in der Einleit. zum Brevier ihn erwähnt fand (dort habe ich das getan, was Sie verlangten: angeknüpft an Ihre diesbezüglichen Äußerungen). Und gar Hilka, dem solche Erwägungen feinerer Art eher fremd zu sein scheinen, faßte Ihre Äußerungen als reine Ablehnung des Gedankens. Vielleicht muß ich Ihnen doch den kleinen Vorwurf machen, daß Sie durch Ihre Äußerungen selbst uns das Konzept verwirrt haben. Schließlich kennen Sie ja die typische Situation, daß ein großer in unvollkommener Form (Steckenbleiben des Redners etc.) "angestrudelt" wird und wohlwollend die Huldigung hinnimmt mit einem Blick: "Sie verstehen es nicht besser, aber Sie meinen es gut."
Ich habe damals auch mit M-L über die Sache konferiert, der
[Zeile im Original entfernt]
|2|auch eher für "Nein" entschied. Auch Jud, dem jede deutsche Unternehmung von vornherein verdächtig ist, war gegen ein deutsches Kollektivunternehmen.
Ihre Ansichten über die Festschriften teile ich durchaus. Aber 1920/1, als die ersten Anfänge eines internationalen Postdienstes gerade bemerkbar waren, konnten wir nicht Bouquets binden, sondern wir mußten über jede gespendete Blume froh sein. Heute ist das anders.
Davon, daß die Zeitschrift von Ihnen im Februar keine Notiz nehmen wird, kann keine Rede sein. Es wird Ihnen von einer Seite, die Sie gewiß freuen wird, der schuldige Tribut gezollt. Mehr kann ich nicht sagen.
Und nun etwas, was ich ehrlich sagen möchte: ich glaube tatsächlich, daß Ihre Wirkung aufs Ausland größer ist als die auf Deutschland, wo es ja keine romanistischen Linguisten gibt (ich meine, gebürtige Reichsdeutsche: Urtel u. Wagner ausgenommen). Wie sollten Leute wie Hilka, und Schultz Gora, die ihr Lebtag Texte herausgegeben haben, viel übrig haben für das Leben der Sprache, für Sprachphilosophie usw.? Und Vossler, der philosophisch gerichtete, ist allzusehr mit der Verteidigung eigener Kampfesstellungen beschäftigt, als daß er sich in fremde Gedankengebäude hineinarbeitete! Ich verstehe es, daß Sie als Deutscher immer wieder dem großen Vaterland Ihr Bestes geben möchten – sowie ich in meinen kleinen Verhältnissen Deutschland mein Inneres gern gäbe –, aber Sie würden staunen über den hier herrschenden Routiniergeist, über die Konjunkturstimmung, kurz über all das, was Sie zeitlebens bekämpft haben. Sie müssen doch auch zur Meinung gelangt sein, daß es gerade die deutschen Durchschnitts-Professoren sind, die unsere Wissenschaft zur leeren Routine herabdrücken wollten (siehe Lautgesetze).
|3|Je mehr der Zeitpunkt Ihres Festes herankommt, desto mehr ergreift mich innere Beunruhigung, vor allem, weil nicht feststeht, ob das Werkchen fertig wird, zweitens aber, weil ich mich vor der Überreichung fürchte. Wie viel Unvollkommenes werden Sie darin finden? Sie, der wie keiner alles bis ins Kleinste überlegt hat, können mir natürlich auf Schritt und Tritt ein husarenmäßiges Verfahren oder Inkonsequenz oder sonstwas vorwerfen. Und wessen Urteil sollte ich mehr fürchten als das Ihre, des aller-aller-allerkompetentesten Richters?
Das tämpfte kapfer steht in M-L-Rezension der Schopf'schen Arbeit in einem der letzten Hefte der Ztschr. Es hat sich also bei Ihnen, wie oft bei mir, Superposition und Kontamination zweier Erinnerungsbilder (durch Gemeinsamkeit des Autors geeint) vollzogen.
Dürfte ich Sie nun um eine Intervention ersuchen, die Ihnen vielleicht nicht schwer fallen wird? Ich glaube, Ihr Freund Ive denkt daran sich zurückzuziehen. Wird diese Stelle neubesetzt oder läßt man sie eingehen? Ich frage natürlich nicht meinetwegen, denn ich bin ja für eine Stadt wie Graz das rote Tuch, sondern für den Freiburger Privatdozenten und Italienisch-Lektor Schürr, einen gebürtigen Klagenfurter, dessen Arbeiten über ital. Dialekte2 ihn wohl am ehesten für diese Stelle befähigen, die sonst Battisti bekommen hätte. Wäre es Ihnen möglich, für ihn ein gutes Wort einzulegen? Da Schnürr finanziell nicht gutgestellt ist, sich in Deutschland verlassen fühlt und wohl bei seinem Arbeitsgebiet jetzt hier keine großen Chancen hat, wäre es sehr erfreulich, wenn er im Vaterlande unterkäme.
|4|Ihre Verlassenheit an einsamen Winterabenden beklagen wir sehr. Ja wenn wir in derselben Stadt lebten, da würde Sie meine Frau verwöhnen und durch ihre plötzlichen Einfälle erheitern. Aber so?
Der hiesige Doktor hält das Befinden meiner Frau für momentan gut, aber nicht gefahrlos. Es wird vielleicht in der letzten Zeit längeres Liegen und am Schluß eine Operation nötig sein. Diese mehr durchsickernden als geäußerten Ankündigungen haben uns in Schrecken gesetzt. Die Prüfungen hören eben nicht auf.
Sandfeld-Jensen besuchte mich auf der Durchreise. Ein sehr netter, ruhiger Herr. Traurig zu sehen, wie verhetzt die öffentliche Meinung Dänemarks gegen uns ist.
Herzlichste Grüße, mit dem Wunsche, daß Sie sich nun keine bösen Gedanken machen, von Ihrem ergebenen
Spitzer
1 H.S., "Über die Festsammelschriften", in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (Augsburg/München) 159 (1903): 114f.
2 Friedrich Schürr, Romagnolische Mundarten. Sprachproben in phonetischer Transkription auf Grund phonographischer Aufnahmen. Wien: Hölder 1917 (in: Sitzungsberichte der (kaiserlichen) Akademie der Wissenschaften in Wien 181 (1917)); sowie ders., Romagnolische Dialektstudien. Wien: Hölder 1918 (in: Sitzungsberichte der (kaiserlichen) Akademie der Wissenschaften in Wien 187 (1918)).