Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (327-11088)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
Unbekannt
Unbekannt
Deutsch
Schlagwörter: Hugo-Schuchardt-Brevier Lerch, Eugen Vossler, Karl Meyer-Lübke, Wilhelm Gamillscheg, Ernst Morf, Heinrich Jud, Jakob Finck, Franz Nikolaus Lewy, Ernst Humboldt, Wilhelm von Schürr, Friedrich Wartburg, Walter von Gilliéron, Jules Gauchat, Louis Bonn Spitzer, Leo (1920)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (327-11088). Unbekannt. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2158, abgerufen am 31. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2158.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Verehrter lieber Freund,
Ich antworte auf den Ihnen wesentlichen Punkt, nämlich die Besprechung Lerchs. Ich finde diesen Menschen in allem, was er tut, namenlos geschmacklos – so auch die Sendung der Besprechung vor der Drucklegung. Mag er auch gedacht haben, Ihnen damit eine Freude zu bereiten, so ist das doch ein ganz ungewöhnlicher Vorgang. Auch inhaltlich bin ich natürlich nicht mit allem einverstanden. Für ihn ist tatsächlich, wie Sie andeuten, alles erledigt, wenn man Vossler anerkennt. Er unterwirft alle Forscher einer Musterung, bei der die Tauglichkeit nach der Vossler-Unterwürfigkeit bemessen wird. Dagegen müßte man sich einmal aufs schärfste zur Wehr setzen. Da nämlich die Vossler-Clique fast alle literarische Kritik Deutschlands in ihre Hand gebracht hat, so bestimmen sie sozusagen allein den Wert aller Neuerscheinungen. Es ist geradezu tragisch, daß ein Mann, der so viel zur Erneuerung und Verlebendigung der Sprachwissenschaft beigetragen hat wie Vossler, sich mit einem so unwürdigen Klimbim und Reklametroß umgibt, ja sogar im Hintergrund als unsichtbarer Regisseur des ganzen fungiert. Ich schrieb
[Zeile im Original entfernt]
|2|oder dgl.
Ich glaube, wenn Sie niemand ganz befriedigen werden, so wird dieser Ουτις – Spitzer sein. Denn ich stehe ja ganz auf Ihrem Standpunkt der Bekämpfung jeder Uniformität und Uniform, also der Schulen. Ich habe die M-L-"Schule" verlassen, auch gelegentlich angegriffen (so Gamillscheg und Herzog, die "reinsten" Schüler), ich habe keine Lust, mich der Vosslerschen restlos zu unterwerfen. Und was die Frage Mitteilung-Kunst betrifft, so habe ich schon in meinem "Hunger" Ihren Satz "aus Not geboren, gipfelt die Sprache in der Kunst" begeistert unterschrieben und zwar so deutlich, daß dieser Satz geradezu als Sucus meines Buches von zwei Rezensenten (Salverda de Grave im Neophilologus und I. Iordan im Arhiva) hervorgehoben wurde. Aber dieses Schul-lose trägt einem wenig Freunde ein: man wird von allen Seiten verhauen. Die Menschen lieben eben Massenwirkungen, die Negerfreude am Zahlreich-Beeinandersein. Die Kraft zum Alleinsein in geistiger Beziehung |3|bringen die wenigsten auf.
Auch sonst hat Lerch manches falsch beurteilt: ich hätte Morf erwähnen sollen! Wenn Jud, der jenen Abschnitt in der Einleitung über die Schweizer abfaßte, seinen eigenen Lehrer ausließ, so wird er wohl Gründe gehabt haben. Ein Morf unter den Schweizer Gratulanten hätte, nachdem er das berühmte Manifest unterzeichnet hatte, großes Befremden erregt. Schließlich hätte dann auch M-L erwähnt werden müssen. – Ein Personennamenregister! Ja natürlich, damit man sieht, ob Vossler genügend gewürdigt ist. Ich fand gerade, daß die Persönlichkeit der Gelehrten, über die Sie im Brevier zu Worte gelangen, ganz nebensächlich ist. Diese Gelehrten sind gleichsam die "Vertrauten" der frz. Komödie, die Ihnen Gelegenheit geben, Ihre Ansicht zu äußern.
Finck bezeichnet auch dessen Schüler E. Lewy, der ihn doch genau kennt, als Vorläufer Voßlers, ebenso Humboldt.
Bezüglich Juds bin ich vor allem auf die Nachrichten Schürr's angewiesen, der Wartburg als den einzig gerecht |4|denkenden Deutschschweizer anführte. Wie finden Sie es weiter, daß Jud einmal (im Herbst oder Frühjahr) einen ganzen Nachmittag in Bonn weilte, ohne den Versuch zu machen einen seiner Fachkollegen zu besuchen (ich war abwesend, aber er konnte das nicht wissen)? Endlich habe ich bei den Verhandlungen über das Brevier lange dafür gekämpft, daß der letzte Satz meiner Einleitung in die Worte ausklingt: "soweit der Name Schuch. das Beste deutschen Wesens kündet". Das mußte gestrichen werden. Zweifellos hat sich die Stimmung gegen Deutschld. in Neutralien in der Nachkriegszeit nicht so gebessert, wie es einem unglücklichen Volk gegenüber am Platze wäre. Es ist ähnlich wie bei den Ost-Juden: man ärgert sich über ihre Läuse, vergißt aber den Ghettozwang. So ärgert man sich über deutsches Schiebertum, ohne zu bedenken, daß dies eine Sumpfpflanze ist, die aus dem Sumpf der Not emporsprießt.
In Bonn ist die bedrohlich werdende Lage durch die Umsicht des frz. Kommandanten beseitigt worden, sonst hätte es leicht ein Blutbad geben können. Allerdings ist die Stellung des Rektors sehr gefährdet. Sie hängt eigentlich davon ab, |5|ob irgend ein besoffener Student provokativ auftritt oder ob die Patrioten auf den Weingenuß verzichten. Im Ganzen steht aber das Professorenkollegium auf dem Standpunkt, möglichst Ruhe zu halten und zu verbreiten. Man ist hier einmal in der Lage, die großen Nationalisten sich in der Nähe anzuschauen!
Gilliéron, dessen Frau uns zu Weihnachten herrliche Pariser Chocolade sandte, hat jetzt, wie es scheint, viele Schläge einzustecken. Gauchat und Millardet setzen ihm ordentlich zu. Es ist auch tatsächlich viel Übertreibung in seinen Sachen, genau wie bei Vossler.
Daß diese Propheten alle Opfer ihrer eigenen Ansichten werden!
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