Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (326-11087)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
04. 01. 1922
Deutsch
Schlagwörter: Meyer-Lübke, Wilhelm Hilka, Alfons Riegler, Richard Urtel, Hermann Vossler, Karl Spitzer, Emma Gamillscheg, Ernst Farinelli, Arturo Rumänien Schuchardt, Hugo (1921)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (326-11087). Bonn, 04. 01. 1922. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2157, abgerufen am 08. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2157.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
4. I. 1922
Verehrter lieber Freund,
Ich antworte so rasch als möglich auf Ihren Brief vom 30. und die Karte vom 31., die von mir dunkelm Feirefiz mehr Licht heischen. Nun soweit ich hineinleuchten kann, will ich es tun.
Ich habe s.z. die eigenmächtige Einreihung Ihres Artikel in die M-L-Nummer1 H. gegenüber sofort mißbilligt: er hatte offenbar keine Ahnung von der Art Ihrer Beziehungen zu M-L. Auch daß Sie als 14. Gast zum Bankett kamen, war nicht richtig: ich hatte als "Lückenbüßer" zu Artikeln von Treimer, Hofer u.ä. mit Einschränkungen geraten, aber H. handelte anders, ohne mich zu fragen. Warum, habe ich nicht erfahren, aber ich nehme bei ihm eher seine stoß´weis ungleichmäßige Art an als etwas anderes.
Wie ich die M-L-Festschr. in der Form, in der sie herauskam, anregte – ich muß mich dessen "schuldig" bekennen; aber damals war es unmöglich, auf andere Weise eine Kollektivaktion zuwegzubringen –, so tat ich auch bezüglich einer Schuchardt-Festschr. – ich bekenne auch diese Schuld nur, weil von Ihnen aufgefordert –. Hilka war sofort damit einverstanden, der Aufruf, von Riegler u. Hilka unterzeichnet, sollte schon versandt werden, da trafen Ihre herben Worte über das M-L-Heft ein, die mich, wie Ihnen wohl schon berichtet wurde, zur Einstellung der Aktion veranlaßten. Also, daß H. Sie nicht ehren wollte, M-L aber ja – davon kann wirklich keine Rede sein.
Von den Motiven der Zurückstellung Ihrer letzten Etym. weiß ich nichts. Aber glauben Sie mir, wir haben alle die sichere Hoffnung, daß Sie uns noch so lange erhalten bleiben und viel viel länger als die Drucklegung dauert. Ich schalte hier eine persönliche Bemerkung ein, die ich nicht übelzunehmen bitte: Ist es denn nicht eigentlich gleichgiltig, wann etwas erscheint? Alles, was wir erzeugen, |2|trägt so sehr den Stempel der eigenen Persönlichkeit, daß uns niemand Prioritätsrechte streitig machen kann. Und wenn auch selbst ein etymolog. Gedanke früher herauskommt, so ersieht man ja doch aus dem Datum der Einsendung das Datum. Und übrigens, Sie haben gewiß für viele Dinge seit vielen Jahren die Priorität – Sie haben vielleicht den oder jenen Gedanken nicht zu Papier gebracht, den dann ein anderer, ein Schnellerer rasch hinausposaunt. Es wundert mich, gerade Sie, der Sie soviel Prioritäten aufzuweisen haben, darum bekümmert zu sehen. Ich bin auch im Grunde sehr skeptisch über unsere ganze Wissenschaft: ein Unglück, wie Sie es mir von unserem armen Urtel, eine Operation der Frau, wie sie mir jetzt Vossler erwähnt, eine Leidensstation, wie sie meine Frau so oft mitgemacht hat, – wie scheinen sie mir wichtiger als meine "schönste" Etymologie. Vielleicht ist es im letzten Grunde Ihr vollständiges Hingegebensein an die Wissenschaft, das Sie in diesem Punkte empfindlicher macht.
Sie schreiben ein wenig bedrückt über das, was Sie im Februar zu gewärtigen haben. Wenn ich wieder meine Meinung sagen darf, so wäre es die, sich an dem wenigen, was in diesen Zeiten für Sie geschehen kann, herzlich zu freuen. Freudige Aufregung ist ja schöner als keine Aufregung. Sie wissen, ich stehe allem Titelwesen ziemlich feindlich gegenüber, vor allem auf die Akademien habe ich es scharf und die Ehrendoktorate sind mir seit Hindenburg, Foch. etc. verhaßt – aber, da nun diese Formen einmal da sind, muß man sie als Symbole nehmen, als Symbole der Verehrung und Freundschaft. Ich meine, Sie, den ans Leben nichts als die Arbeit fesselt, müßte das bischen Verhimmelung zu diesem Feste nicht schrecken, sondern wärmen und anheimeln. Die größte Gefahr des Menschen ist doch wohl, wenn er gewissermaßen in luftleerem Raume schwebt, |3|außerhalb der Hierarchien, außerhalb der Organisationen der Menschheit. Das Amt, das Sie haben, ich meine die nur-wissenschaftliche Arbeit, birgt in sich diese Gefahr der Ent-anthä-isierung (zu Antheus), der Entwurzelung. Da müssen Festtage kommen, um Sie zu überzeugen, daß Sie in Ihrer Mitwelt u. vor allem in der jungen Generation leben, atmen, ja sie befruchten und geradezu bedingen.
Natürlich müssen die, die Sie ehren wollen, auf Ihr Körperliches Rücksicht nehmen. Und hier etwas pro domo. Gern wäre ich zu Ihnen an Ihrem Festtage gereist, trotz der jetzt geradezu unerschwinglichen Kosten, wenn ich nicht auch schon vor Ihrem Briefe gewußt hätte, daß ich Ihnen damit nur Anstrengungen und keine Freude bereite. Ich schreibe das nur, um keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß ich etwa nicht den dem Freunde gebührenden Zoll zu entrichten bereit wäre.
Die Reise haben wir in 3 Tagen abgemacht und sie ist trotz mancherlei Strapazen und vor allem Befürchtungen unterwegs ganz gut abgelaufen. Was man an Angst in solchen Reise-Bahnnächten erlebt, ist nicht zu schildern. Nun bin ich froh, daß mein liebes Wesen wieder die Bonner Wohnung belebt. Ein 1 m hoher Haufen – unübertrieben – von Büchern aus Rumänien, Katalonien, und allen möglichen Ländern erwartete mich. Wenn ich so meine "Wirkung" nach außen leibhaftig in Form von "Rückwirkung" vor mir sehe, packt mich ein Grausen. Keine Zeitschrift, in der ich nicht zerwühlt und zerlesen werde. Nun, Sie sind ja derlei gewöhnt – ich nicht. Die eigenen Sep. von Neuph. Mitt. u. Butlletí schicke ich Ihnen vorläufig nicht, da Sie ja wohl alles direkt bekommen.
|4|Auf meine Absage zur Becker-Festschr. schickt mir Gamillscheg beiliegende Karte. Raten Sie mir bitte: was nun?
In den Gratulationen, die ich zu Neujahr von Vossler, Farinelli, Hilka u.a. erhielt, steht überall drin, ich möge in diesem Jahr das Längstverdiente-Langgewünschte erhalten. Mein Gott, mein Gott – ich bin ja schon so zahm geworden, daß ich mir selbst nichts mehr wünsche.
Das Weihnachtsfest das Fest der sonst Unsentimentalen? Stimmt bei mir nicht. Ich bin sehr sentimental, das ganze Jahr hindurch und besonders zu Weihnachten. Es ist doch das Fest der Liebe und der Opferung – und schön, weil die seligen Geber sich an den glücklichen Nehmern (Kinder und Kind-Werdenden) erfreuen können. Ich baue seit vielen Jahren meinem geliebten Wesen allein den Bescherungstisch auf – zünde die Kerzen an und singe aus Leibeskräften "Christ ward geboren" – verraten Sie bitte diese Handlungsweise des "undeutschen" Juden nicht Unberufenen – und was ist das für ein göttlicher Augenblick, wenn das beschenkte Wesen lichtgeblendet im Zimmer herumblickt, so dankbar und glücklich!
Ich würde mich sehr freuen, wenn mein Brief Sie einigermaßen beruhigt hätte und Ihnen die nötige Ruhe und Vergnügtheit wieder geben könnte. Beruhigen Sie mich bitte darüber mit ein paar Zeilen.
Alles Herzliche vom
Spitzer
1 Festschrift Meyer-Lübke, Zeitschrift für romanische Philologie XLI.1-2; Schuchardts Beitrag über "Ecke, Winkel" ist der letzte des Bandes.