Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (324-11085)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

25. 12. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Vossler, Karl Farinelli, Arturo Steiner, Herbert Lerch, Eugen Meyer-Lübke, Wilhelm Diez, Friedrich Wagner, Max Leopold Urtel, Hermann Gilliéron, Jules Meillet, Antoine Wien München Schuchardt, Hugo (1917) Runze, Georg (1889) Schuchardt, Hugo (1890) Meillet, Antoine (1921) Schrijnen, Josef (1921)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (324-11085). Pörtschach, 25. 12. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2155, abgerufen am 31. 05. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2155.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach, 25. XII.

Verehrter lieber Freund,

Verschiedene Zweifel, die vielleicht töricht sind, zwingen mich, Sie mit sofortiger Antwort auf Ihren lieben Brief und mit der Bitte um sofortige Antwort zu belästigen.

Ich beginne damit:

1) In Ihrer Saussure-Bespr. heißt es (wohl Sp. 7) "zu einer, sei es auch nur vermutungsweisen Erkenntnis der Ursachen und Entwicklungen".1 L. statt "und" etwa "der"? Ich weiß wohl, daß das doppelte der (mit Abhängigkeit in 2. Potenz) nicht in Ihren Stilgewohnheiten liegt. Daher ist wohl Ihr Text der richtige.

2) In Ihrer Anzeige von Runze, Spr. u. Religion2 steht einmal Muhamedaner ein­mal Muhammedaner. Soll ich dieses oder jenes oder Mohamedaner einsetzen?

3) In derselben Anzeige steht ein Zitat "den drei Göttern Makon, Apollon und Tervagan". Woher es stammt, weiß ich nicht. Wenn aufs Rolandlied angespielt wird, so glaube ich mich zu erinnern (kann es aber hier nicht nachsehen), daß die Form Apollin heißt. Was tun?, spricht – Apollo, die Bücherwelt ist weggegeben.

Das letzte (Bonner) Fragekärtchen "sah voraus", daß eine 2. Korr. nach Pörtschach kommen würde, u. wollte Ihre Antwort einverleiben. Das war denn auch dank Ihrer prompten Antwort möglich. Besten Dank! Mein Umweg war also ein Abkürzungsweg.

Bei der Vosslerschrift glaube ich nach meinen Informationen mich richtigerweise übergangen gefühlt zu haben (nicht etwa aus Rechthaberei schreibe ich das, Sie wissen, wie oft ich privatim u. öffentlich mich selbst dementiert habe): es ist nicht etwa eine Schülerkundgebung geplant (Farinelli, Schuchardt Schüler Vosslers?) Daher Steiner der Anfänger, aber auch Leute wie Helmuth Hatzfeld nicht mitwirkten, sondern nur solche Gelehrte, die sich um das Banner der idealistischen Neuphilologie scharen. Es wurde auch in den beiden Entschuldigungsschreiben von jüdischer (Klemperer) und judoider Seite (Lerch) nicht angeführt, daß ich nicht Schüler, nicht Münchner |2|od. dgl. sei, sondern daß "man" den Eindruck gehabt hätte, ich stünde Vosslers Programm kindlich (oder so ähnlich) gegenüber. So wurde denn mein Eindruck, nämlich der der absichtlichen Übergehung eines antipositivistisch gesinnten Forschers, nachträglich gerechtfertigt. Ich kann dagegen sehr gut verstehen, daß man einen M-L nicht aufforderte. Auch der menschliche, der Freundschaftsstandpunkt entschied hier nicht: Vossler schreibt mir seit vielen Jahren "lieber Freund", was doch gewiß keine Lehnübersetzung aus caro amico sein wird. Und schließlich auch mein "Rang" in der akademischen oder wissenschaftlichen Republik entscheidet nicht, weder der äußere noch der innere: mit W. Friedmann nehme ich es noch auf. Mein Ausdruck "Clique" mag stark sein: aber Hand aufs Herz, die Vosslerschüler können nicht vertragen, wenn man gegen ihren Lehrer die kleinste Einwendung macht und ein solches jurare in verba magistri halte ich allerdings für die Wissenschaft sehr gefährdend. Wenn nämlich in Wien, Berlin, München etc. überall ein Diktator sitzt, der da gebietet, wie man zu arbeiten, was man für richtig zu halten habe, so entsteht jener Zustand, den Sie selbst mir einmal durch die Bemerkung M-Ls über die Unfehlbarkeit des Inhabers des Diez-Lehrstuhls glänzend deutlich gemacht haben. Ich schätze, wie schon mehrfach betont, Vossler sehr hoch und jedenfalls höher als die für ihn Reklame machenden Schüler. Wenn ich nicht arriviert bin, so muß ich sagen, daß ich angesichts der Beweihräucherung, der Leute wie M-L, Vossler ausgesetzt sind, mir dennoch die Einfluß-Armut des Privatdozenten schätze, der zwar oft über Gebühr geprügelt, aber, wo er geschätzt wird, wenigstens ehrlich und nur um seiner selbst willen geschätzt wird. Das Bild der "reichen Partien" liegt nahe: diese Ober-Ordinarien gleichen ihnen.

Ich habe übrigens mich nicht zu dem Vossler-Unternehmen hinzugedrängt, sondern nur angefragt, "ob" etwas geschehe (ganz genau wie M.L. Wagner) und dann die zwei erwähnten Aufforderungen erhalten.

Nun hoffe ich doch, daß sich der ungünstige Eindruck, den Sie von mir bekommen zu haben scheinen, etwas verwischen wird.

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Nun zur Betonung "denn ich bin ein Jude". Wie Sie wissen, hat mich die seinerzeitige Burgschauspielerin Tony Janisch spätere Gräfin Arco, eine Schülerin Laubes und Lewinskys, erzogen u. auch sehr viel Bühnenblut in mich hineingeflößt. Daher weiß ich nun, daß unsere Bühnentradition älteren Stils alle Betonungen, die in die Mitte eines Satzes fallen, verpönte. Die erwähnte Dame setzte mir z.B. immer beim Lesen kontradiktorische Gegensätze hervorhebende Betonung aus. Ebenso wurde in unserem Kreise oft diskutiert, wie auf dieser Bank von Stein will ich mich setzen zu sprechen sei. Die Gräfin war gegen diéser, Bánk und befürwortete stets den auf den Satzschluß fallenden Nachdruck. Ob da romanische Einflüsse auf die deutsche Bühnensprache einwirkten oder dialektale Einflüsse. Sie meinte, der logische Sachverhalt genüge schon, man müße nicht die I-Punkte setzen!

Ich glaube mich zu entsinnen, daß Urtel auch noch im Nov. ganz froh geschrieben hat. Aber Genaueres kann ich hier nicht sagen. – Gegen Gundolf nimmt mich seine stilistische Manieriertheit ein. Er hat z.B. seine eigene Interpunktionsweise, aber er führt sie nicht konsequent durch, also nur Geziertheit, Originalitätshascherei. Ferner ist mir sein ästhetischer Papismus unsympathisch.

Von Gilliéron 2 Abhandlungen erhalten, ebenso Meillets neuestes Buch,3 ferner Schrijnen's "Einführg",4 in der Sie sehr oft erwähnt sind.

Wir haben einen schönen heiligen Abend verbracht, Schnee draußen, drinnen Bäumchen mit Lichtlein, dazu Liedergesang und stille Fröhlichkeit. Wir reisen am 31. ab.

Herzlichste Grüße

Spitzer


1 In: Literaturblatt für romanische und germanische Philologie 38 (1917): 1-9.

2 Zu Georg Runze, Sprache und Religion. Berlin: R. Gaertner 1889; H.S. zeigt diesen Text an im Literarischen Zentralblatt 1890: 24-27.

3 Antoine Meillet, Linguistique historique et linguistique générale. Paris 1921.

4 Josef Schrijnen, Einführung in das Studium der Indogermanischen Sprachwissenschaft. Mit besonderer Berücksichtigung der klassischen und germanischen Sprachen. (Übers. von Walther Fischer). Heidelberg: Winter 1921.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11085)