Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (317-11078)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

22. 11. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Würzburg Universität Marburglanguage Japanisch Lerch, Eugen Haas, Wilhelm Vossler, Karl Gilliéron, Jules Meyer-Lübke, Wilhelm Curtius, Ernst Robert Farinelli, Arturo Küchler, Walther Grammont, Maurice Bovet, Ernest Spitzer, Emma München Wien Bonn Schuchardt, Hugo (1921) Hachtmann, Otto (1912) Haas, Josef (1916) Lerch, Eugen/Klemperer, Victor (Hrsg.) (1922) Vossler, Karl (1913) Vossler, Karl (1929) Lerch, Eugen (1921) Grammont, Maurice (1895) Schuchardt, Hugo (1914)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (317-11078). Bonn, 22. 11. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2148, abgerufen am 23. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2148.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 22. XI.

Verehrter lieber Freund,

Vor allem herzlichen Dank für Ihre Abhandlung,1 die mir sehr zu paß kommt, weil ich mich grade mit dem stilistischen Eindruck des Impersonale beschäftige. Nur zu Einzelheiten Einiges. S. 653 Anm. 3: Die Literatur über den französischen Nominal-Stil kennen Sie wohl (Hachtmann,2 meine Rezension die Dissertation von Lerch, Haas, Frz. Synt.3 usw.) – S. 654 Anm. 2: ich kenne die Anekdote zum Schluß aus Balzacs Contes drolatiques anders: das Kind wird gefragt, wer von den beiden Nachtgestalten auf dem Bild Adam und wer Eva sei... S. 660 Anm. 1: wenn das jap. wa richtig = 'what for' analysiert wäre, so entspräche so ziemlich der volksfrz. Typus pour un sale type c'est un sale type. Die Schlußbemerkung S. 662 hat mich sehr ergriffen. S. 658 Anm. ob nicht la coquine de Toinette, le fripon de valet etc. so zu erklären sind wie un bout d'homme, un pezzo di donna, ein Trum Frauenzimmer (also Partitiv nach Maßbezeichnung) > ein Riese von einem Frauenzimmer > ein Schuft von einem Menschen usw. ?

Nun zu Ihrem Ratschlag bezüglich Vossler. Hätte ich ihn früher erhalten! Ich hatte bei Lerch bloß angefragt, ob etwas geschehe, darauf die Einladung erhalten (u.zw. mit der Mitteilung, daß Vossler selbst damit einverstanden sei!!) – und zugesagt4. Das sieht also wenig stolz aus. Ich muß also mein inneres Verhältnis zu Vossler darlegen.

Ich leugne nicht, daß ich Vossler sehr liebe, als Gelehrten, wie als Menschen – daß ich aber über seine wirklichen Gefühle zu mir mir nicht klar bin. Ich habe ihn stets als einen großen Erneuerer unserer Wissenschaft, als eine Art Gegengewicht gegen den rationalistischen Gilliéron und den positivistischen M-L, betrachtet und das auch öffentlich ausgedrückt, allerdings seine Gewaltsamkeiten bei der Beurteilung der Einzelerscheinungen |2|kritisch zurückgewiesen. Herzog hat mir ja sogar in seiner Lbl.-Kritik das Schwärmen für V.'s Gedankengänge vorgeworfen.

V. selbst hat sich im persönlichen und brieflichen Verkehr gegen mich immer reizend benommen. Seine Briefe an mich strotzen von Lobsprüchen und sind geradezu Kabinettstücke liebeswürdigen Epistularstils. Wenn ich damit aber die Äußerungen seiner Schüler verglich, so schien es mir, als ob sie – wie auch gegen Curtius, M-L usw. – wie auf ein geheimes mot d'ordre vorgingen und das grob sagten, was er vielleicht fein und vornehm gedacht haben mag. Weiters frappiert mich in seinen eigenen Publikationen, daß er niemand kennt und gelten läßt außer seinen eigenen Schülern: wenn Sie die Anmerkungen zu seiner 2. Aufl. des "Spiegels"5 durchgehen, so finden Sie nur Lerch. Erscheint ein neues Buch einer seiner Schüler – wer rezensiert es, natürlich zustimmend und allen späteren Rezensenten den Wind aus den Segeln nehmend? Vossler, auch dann wenn er selbst wie beim Altfrz. Lesebuch Lerchs6 von der Ungüte der Leistung tief überzeugt ist.

Daß er mich damals anläßlich der Berliner Berufung im Stich ließ, wissen Sie. Ich hatte darauf sicher gerechnet, da doch ein Versprechen mir bindend schien, und wurde darob von M-L verlacht, der mir sagte: "Sie geben etwas auf schöne Worte." Ja, wenn meine eigenen Worte stets aufrichtig sind und wenn ich keinen anderen Trost habe als Worte – wie soll ich sie nicht ernst nehmen?

Das alles ist aber natürlich nicht imstande, meine Verehrung für den genialen Forscher zu unterbinden. Und da ich gerade etwas als Gabe für ihn sehr Passendes auf Lager habe, sollte ich schweigen?

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Gegenüber der Trostlosigkeit des M-Lschen Wissenschaftsbetriebes ist mir seine "idealistische Neuphilologie" sehr willkommen. Es ist nur logisch in meiner Entwicklung begründet, daß ich von dem Positivismus meiner Juvenitia hinstrebe zu weiteren Rundsichten, wie Sie oder in anderer Weise Vossler und Gilliéron sie lieben.

Ob ich aber Aussicht habe, Vossler mir wirklich gut zu stimmen? Neulich in München war er entzückend. Farinelli, der mir schrieb, er empfinde angesichts meines Schicksals (das er auch von dem hiesigen Lektor, seinem Schüler, aus gut kennt) "una stretta al cuore", hat mir Vosslers Brief auf eine Interpellation seinerseits eingesandt, der sehr freundlich gehalten war. Nun ist Küchler nach Wien berufen, der mir mitteilt, es sei noch nicht bestimmt, ob er annehme, aber er habe große Lust. Dann würde wohl Lerch nach Würzb. kommen u. das Extraordinariat könnte mir, dem Älteren, zufallen. Lerch schreibt auch – seine neuliche Rezension im Lbl. scheint ein Einlenken zu bedeuten – in geheimnisvollen Andeutungen, Vossler habe für mich eine ganz bestimmte Kombination im Auge. Auch Curtius, der mich kürzlich besuchte, versprach, im Fall er berufen werde, mich in Marburg vorzuschlagen. Sie sehen, Freunde habe ich wohl, aber "es kommt nischt bei raus". Ich bin sehr gerührt, daß Sie mir helfen wollen. Wenn Sie einmal (aber nur wenn die Würzburger Geschichte erledigt ist) bei Vossler einwirken wollten, so täten Sie mir einen großen Dienst. Ich nehme an, daß Sie selbst davon überzeugt sind, daß das Maß meines Leidens voll ist. Ich könnte Ihnen über meine Schicksale noch manches erzählen und Sie würden staunen, was alles ein Mensch aushalten kann. Wenn ich Ihnen sage, daß ich Grund zur |4|Annahme habe, daß die Rez. im Lit.Zentrbl., die Sie seinerzeit als die Tat eines "anonymen Neidhammels" bezeichneten, von M-L stammt, so werden Sie zu dem Bilde, das ich neulich gezeichnet, noch ein pikantes Detail hinzuhaben.

Ich weiß nur von Grammont, daß er durch die Aufnahme seiner Dissimilation7 in Deutschland gegen uns verbittert ist. Der Ton, in dem er schreibt, ist geradezu empörend. Daß er tot ist, wußte ich nicht.

Bovet ist Sekretär der Schweiz. Völkerbundgesellschaft oder so was Ähnliches geworden und hat die Lehrstelle niedergelegt.

Ich bin mit der "Dienstbezeichnung außerordentlicher Professor" versehen worden – eine "Ehrung", die vor allem meiner in Pörtschach liegenden Frau Freude macht. Sie liegt nachmittags dick eingepackt auf dem Balkon und schaut melancholisch den Wildenten auf dem See zu. "Nie wieder dürfen wir uns trennen", steht in unzähligen Varianten in den Briefen. Gelegentlich bezeichnet sie sich als "Eisprinzessin". Ich meinerseits singe oft unter Tränen das schöne lettländische oder livländische Wiegenlied, das Kothe so meisterhaft vortrug:

Sonne und Regen Müssen ja sein

Sollen zum Segen Saaten gedeihn.

Dir aber scheinen Der Sonnen zwei:

Mußt drum nicht weinen Eiapopei.

Das sage ich mir auch vor, wenn mich die dumpfe Verzweiflung packt.

Doch ich schließe, ich kann nicht mehr weiter.

Vielen Dank für alle Anteilnahme an meinem bedeutungslosen Schicksal und innige Grüße vom ebenfalls wissenschaftsfeindlichen

Spitzer

Dank für den Hinweis auf L'avenir.

Könnte ich leihweise ein Sep. Ihrer Jespersen-Rez. in Anthropos IX8 erbitten? – Original in Bonn verliehen.


1 Der Seitenzahl nach kommt nur "Possessivisch und Passivisch" in Frage (in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1921, 651-661).

2 Otto Hachtmann, Die Vorherrschaft substantivischer Konstructionen im modernen französischen Prosastil. Berlin: Ebering 1912.

3 Josef Haas, Französische Syntax, Halle a.S.: Niemeyer 1916.

4 Es geht um den von Victor Klemperer und Eugen Lerch herausgegebenen Band Idealistische Neuphilologie. Festschrift für Karl Vossler zum 6. September 1922. Heidelberg 1922.

5 Karl Vossler, Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung erschien 1913; in der zweiten Auflage veränderte sich der Titel zu Frankreichs Kultur und Sprache. Geschichte der französischen Schriftsprache von den Anfängen bis zur Gegenwart.

6 Einführung in das Altfranzösische. Texte mit Übers. und Erläuterungen. Leipzig 1921.

7 Maurice Grammont, La Dissimilation consonantique dans les langues indo-européennes et dans les langues romanes. Dijon: Darantière 1895.

8 In: Anthropos 9 (1914): 340-343.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11078)