Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (315-11076)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

18. 10. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Riegler, Richard Riegler, Hermine Spitzer, Emma Lerch, Eugen Triest Wien Lorck, Jean Etienne (1921)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (315-11076). Pörtschach, 18. 10. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2146, abgerufen am 04. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2146.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach, 18. X.

Verehrter lieber Freund,

Ecco: heute, Rieglers besuchend, höre ich, daß Frau R., gebürtige Polesanerin, von ihrer in Triest lebenden Nichte als Rositta spricht.

Gestern las ich, daß der jetzt seinen 50. Geburtstag feiernde Ginzkey im Küstenland aufwuchs. Also – Waffenstreckung der Philologen vor den Dichtern?

Heute bekomme ich die Nachricht, daß unsere Bonner Wohnung wie im Vorjahr beschlagnahmt ist. Verhandlung am 27. Meine Frau darf nichts wissen. Vorher in Wien mit dem Advokaten den "Aufhalt des Bankrotts" besprechen. Ich weiß wirklich nicht, wo mir der Kopf steht. Meine Frau dabei nicht transportfähig, muß allein bleiben. Ich reise am 23. ab. Vielleicht bekomme ich noch von Ihnen ein Lebenszeichen.

In der Erlebten Rede des sehr feinsinnigen Lorck1 sehe ich (letzte Seite), daß Lerch geschrieben hat, "es sei eine Freude zu leben, wenn neue Ziele winken". Ich zog sofort |2|den Rückschluß auf mich: Mir winken keine neuen Ziele, daher ist es keine Freude zu leben. Ich bin vorzeitig angegreist – wäre ich erst wirklich alt, damit ich das Gefühl des vorzeitigen Gebrochenseins loswürde! Im Grunde ist es die Wissenschaft, die nicht hält, was sie versprochen: sie ist zu sehr mit dem Ich verknüpft, zu sehr Steigerung des Ich, als daß sie uns dauernd das Gefühl der Stärke geben könnte. Ich glaube, Sie empfinden das jetzt auch. Und die Menschen? – sie sind zu böse. Und doch liebe ich sie, aber entsagend wie die Strindbergsche Göttertochter: "Es ist schade um die Menschen."

Herzlichste Grüße

Spitzer


1 Etienne Lorck, Die 'Erlebte Rede'. Eine sprachliche Untersuchung. Heidelberg: Winter 1921.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11076)