Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (305-11065)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
03. 09. 1921
Deutsch
Schlagwörter: Bertoni, Giulio Jud, Jakob Bonn
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (305-11065). Pörtschach, 03. 09. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2136, abgerufen am 08. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2136.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Pörtschach, 3. IX.
Verehrter lieber Freund,
Dank für Ihre Auskünfte.
Haben Sie Bertoni's Etimologia idealistica erhalten?
In diesen Tagen bereitet mir Deutschland wieder schwere Sorgen: der Erzbergermord ist ein Glied in der Kette der systematischen Abschlachtung deutscher Linksführer, die in der Regel sühnelos bleibt, weil an den maßgebenden Stellen der Wille gar nicht vorhanden ist, Ordnung zu schaffen: ich glaube, 136 Linksführer sind ermordet worden, gegen fast gar keinen Rechtsführer. Das spricht Bände. Als ein paar Arbeiter in Bonn das Kaiser Wilhelm-Monument mit roter Tinte übergossen, bekamen sie 2 Jahre Gefängnis; Fähnrich v. Oltwig, der Erzberger attentierte, 1 1/2 Jahre u. wird dann noch beurlaubt.1 Der Kapp-Putschist v. Jagow narrt durch Monate die Justiz und der Justiz|2|minister bleibt im Amt. Wenn das deutsche Volk mitten in der demokratischen Entwicklung umkehrt, so wird es neuen Weltkonflikten entgegentreiben. Man isoliert sich nicht ungestraft vom Zeitgeist. Als der neue Mord in der Zeitung stand – ich hasse übrigens den Arrivisten und Affairisten Erzb. – , blieb mir der Atem stehen.
Meine Wage-Artikel hatten doch seinerzeit zum Teil Ihre Zustimmung gefunden? Seitdem ist manches verwirklicht. Die Wage-Artikel habe ich von Ausländern nur an Jud, unseren gemeinsamen Freund gesandt.
Beste Grüße
Spitzer
1 Matthias Erzberger, Mitglied der Zentrumspartei und Finanzminister nach dem 1.Weltkrieg, galt wegen seiner Rolle in den Friedensverhandlungen als Feindbild der extremen Rechten. Er wurde am 26. August 1921 ermordet; bereits im Jänner 1920 überlebte er ein Schußattentat durch Oltwig von Hischfeld.