Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (299-11059)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Pörtschach

05. 08. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Zeitschrift für österreichische Gymnasienlanguage Piemontesische Dialektelanguage Französischlanguage Spanisch Roques, Mario Vossler, Karl Kammerer, Paul Paris Bonn Wien Kurz, Isolde (1919) Viriglio, Alberto (1917) Pereda, Jose Maria de (1885) Schuchardt, Hugo (1886) Spitzer, Leo (1920)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (299-11059). Pörtschach, 05. 08. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2130, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2130.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Pörtschach, 5. VIII.

Verehrter Herr Hofrat,

Das Uff! am Schluß Ihres lieben Briefes ermutigt nicht zur Antwort, da eine Gegenantwort schwer zu erreichen sein wird. Immerhin wage ich den Versuch.

Ich stimme Ihren Erwägungen über Politica vollkommen zu. So anational wie Sie mich erklären, bin ich nicht. Wie oft betont, sind meine Musikerlieblinge Schumann, Brahms, Schubert, Löwe, Wolf, allerdings auch Mahler und Dvorak, meine Dichterlieblinge Lenau, Eichendorff, Goethe (nicht Heine). Nur die wehrsame und gehorsame Spielart deutschen Wesens hat mir nie behagt, schon lange vor dem Krieg, als ich noch ein politisches Waiserl war, so beim Marburger Phil.-Kongreß, wo eine schweizerisch-süddeutsche Liga sich gegen den Berliner Ebeling zusammenschloß. Wo haben Sie je gehört, daß französische oder englische Studenten, deren erstere gewiß|2| national, deren zweite rauflustig gesinnt sind, so alle Kultur mit Füßen treten wie dies immer wieder und wieder bei uns geschieht? Oder etwa italienische? Außerdem wäre ich im Ententeland gewiß ein begeisterter Verfechter des Deutschtums – hier sehe ich zu sehr die Mängel im eigenen Hause. Ich habe auch s.Z. in Paris voll Empörung die Ausfälle Thomas' und Roques' gegen deutsche Wissenschaft in Diskussionen zurückgewiesen. Wie soll ich als deutscher Universitätslehrer zu einer solchen Jugend sprechen? Übrigens, kennen Sie die schöne Schrift von Isolde Kurz über Deutsche und Italiener?1 Sie verlangt nach einer Druckäußerung von Ihnen.

Zu akúpa vgl. noch piem. fe ôpa 'alzarsi', fe opa là là 'sollevarsi a un bel salto' im Ggs. zu fe ton 'cadere' bei Viriglio, Voci e cose del vecchio Piemonte S. 284.2 In Pereda's Sotileza3  lautet eine zustimmende Interjektion eines alten Fischers stets; uva! – Aus dem Buch von Viriglio S. 228 kopiere ich: "La quaglia dichiara continuamente 'L'ài pagà..., l'ai pagà!': non devo nulla a nessuno".

Vgl. frz. paye tes dettes.

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In der Zeitschr.f.öst.Gymn. 37,3404 erwähnen Sie im estländ. Dtsch. ein Zeitwort, das aus dem Russischen stammt: skaljieren 'raisonnieren'. Ich habe zweimal ein Verb škalieren in dieser Bdtg. oder der ähnlichen 'Kritisieren' gehört, einmal von einer Slowakin in Preßburg in deutscher Rede, einmal von einer in Tschechien aufgewachsenen aus Öst.-Schlesien gebürtigen Dame mit deutscher Muttersprache.

Vosslers religiös-sprachlicher Aufsatz hat mir großen Eindruck gemacht. Das ist einmal was anderes als die schäbige Schulfuchserei, die noch immer allein als "wissenschaftlich" betrachtet wird. Ich werde mich wohl zu diesem Thema, über das ich auch einige Beobachtungen gemacht habe, äußern.

Dank für carai: ich vermute nämlich, daß span. carajo 'penis' auch auf denselben Stamm zurückgeht (vgl. die Bdtgen. wie 'Eichel' oder 'Nuß').

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Daß ich Barbusse nur linguistisch behandeln würde, habe ich nicht gemeint: in wenigen Wochen erscheinen meine "Studien über H. Barb." bei Cohen in Bonn, die vorwiegend literarisch gehalten sind. Die frz. Soldatensprache ist sehr interessant: schließlich sind die allgemeinen militärischen Verhältnisse die wir alle kennen, im fremden Sprachgewand erträglicher als im eigenen. Daß die Bonner sich so skandalös verhalten sollten wie die Grazer des vorigen Jahrhunderts, erwarte ich nicht: übrigens hat Dr. Rieder mir schon voriges Jahr in Wien die Priorität dieser Vorlesung streitig gemacht.

Morgen kommt Kammerer her, am 12. Meißner aus Bonn, beide mit Familie. Die Gäste werden mein armes geschlagenes Weiblein etwas aufheitern!

Ergebenste Grüße

Spitzer


1 Isolde Kurz, Deutsche und Italiener. Stuttgart & Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt 1919. Eine Kursosität am Rande: Die Pension Villa Elena in Forte dei Marmi, in der Spitzer 1960 starb, war zuvor als Villa Kurz lange Zeit der Wohnsitz der Eltern von damit auch von Isolde Kurz.

2 Alberto Viriglio, Voci e cose del vecchio Piemonte. Turin: Lattes 1917.

3 Jose Maria de Pereda, Sotileza. Madrid: Tello 1885.

4 H.S., "Zu meiner Schrift 'Slawo-deutsches und Slawo-italienisches'", in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 37 (1886): 321-352.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11059)