Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (298-11058)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

01. 08. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Frankfurter Zeitung Magyar Nyelvör Hugo-Schuchardt-Brevier Gamillscheg, Ernst Castro Quesada, Américo Griera y Gaja, Antonio Gilliéron, Jules Vossler, Karl Meillet, Antoine Debrunner, Albert Trombetti, Alfredo Steiner, Herbert Jud, Jakob Meyer-Lübke, Wilhelm Kraus, Karl Kammerer, Paul Menéndez Pidal, Ramón Lerch, Eugen Simonyi, Zsigmond Riegler, Richard Wien Bonn Paris Schuchardt, Hugo (1921) Schuchardt, Hugo (1921) Navarro Tomás, Tomás (1921) Wagner, Max Leopold (1921) Schuchardt, Hugo (1925) [o. A.] (1925)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (298-11058). Bonn, 01. 08. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2129, abgerufen am 04. 06. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2129.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 1. VIII.

Verehrter lieber Freund,

Vielen Dank für alle Ihre Angaben. Ich brauche nun nichts mehr als die Angabe, wie Sie die Verewigung Ihrer Unterschrift anders als auf lithographischem Wege sich denken. Ich hatte, ich muß es gestehen, nur an diese allerdings etwas fabrikartige Verfielfältigung gedacht. Was Sie über coqueluche1 (offenbar gegen die ganz unhaltbare Erklärung Gamillschegs) und über doudo2 (offenbar gegen mich und mit Berücksichtigung des Albino oder Doudo-Negers) denken, würde mich sehr interessieren. Ich habe auch einen coqueluche-Artikel eingeschickt, den ich aber, da ich mich wirklich vom Geschäft zurückziehe, zurückverlangt, allerdings noch nicht bekommen habe.

Ich sende meine Beiträge für RFE stets an den mehr redaktionell tätigen Castro. Ihren Unwillen gegen das Etymologisieren teile ich. Es ist eben doch mit dem Rätselraten am verwandtesten, daher auch mit Ihrem "prozessualen" Weg nicht recht zu erreichen. Die Etymologie wird gefunden (trouvée), nicht gesucht (rom. *turbare).3 Wenn ich Fehler beging, so deshalb, weil ich suchte statt auf den Fund zu warten.

Die drei Vorträge in Bilbao sind sehr schön – die Phonetismen Navarro Tomás4 habe ich nicht gelesen, allerdings hat Griera mich nicht so gut begriffen wie Castro. Ich bin doch kein "implacable crítico" Gilliérons, den ich für einen der größten Linguisten aller Zeiten halte, das ist vielmehr Vossler, der in seiner Gottschalk-Rezension in "Neuere Sprachen" nicht viel Verständnis, aber auch nicht viel Kenntnis von Gilliérons Methoden zeigt.

Mit Vossler habe ich eine Reihe von Briefen gewechselt. Er ist ein charmanter und liebenswürdiger Mensch, nur mit seinen Schülern kann ich mich nicht befreunden – vielleicht weil sie mir zu ähnlich sind u. weil ich die jüdische Essenz ihres Wesens nicht vertragen kann. V. meint, nur die politische Seite sei in Greifswald in Betracht gekommen. Ich sei in Wirklichkeit viel mehr Deutscher als ich zeige. Darin hat |2|er vollkommen recht. Aber das hypernationale Gebahren seiner Schüler, die ähnlich der Frankfurter Zeitung dem Antisemitismus durch Chauvinismus auszuweichen suchen, möchte ich nicht nachahmen. Denn eben jene unoffensive nationale Einstellung, die genau der Liebe zur Familie, zum Kirchturm usw. parallel ist, vertrete ich ja seit meinen Jünglingsjahren.

Von Magyar Nyelv, das ich abonniere (Nylvör kriege ich geschenkt), habe ich wohl nur durch Irrtum zwei Ex. erhalten. Daß die Franzosen Ihnen etwas schicken, ist doch ein Anfang der Besinnung. Meillet, der mir seinen sprachphilosophischen (übrigens ziemlich inhaltlosen) Band versprach, hat nicht Wort gehalten. Sehr interessiert hat mich Debrunners Vortrag übers Hethitische. Herrlich Wagners "Ländliches Leben"!5 Wie heißt Trombetti's neuestes Werk?

Herbert Steiner wurde von mir loyalerweise sofort bei Beginn der Arbeit verständigt. Er schien darüber in keiner Weise beunruhigt oder verstimmt zu sein. Er ist ja vorwiegend Literat und bringt daher einen weniger verbogenen Blick mit als ich.

Mit Jud habe ich in letzter Zeit sehr viel korrespondiert und natürlich über das Brevier. Ich hatte meine Einleitung – hören Sie und staunen Sie – zu deutsch­national gehalten und darüber sprachen wir uns aus. Gegen Sie ist wohl nichts am Werke: im Gegenteil, Sie sind es ja, der uns einigt.

"Orplid mein Land" ist das erste und das liebste Lied, das ich (mit Beifall!!) gesungen habe. Ich liebe es, weil es mir nichts ist als mystischer Wortschall, der vom Musikalischen noch mehr entgrenzt wird. Stammt das nicht aus Ossian und bedeutet es nicht die Mystik der jungfräulichen Priesterin oder Göttin? Beliebt wurde das Wolfsche Lied in Wien durch den berühmten Bariton Demuth.

In Bonn besuchte mich A.Chr. Thorn auf der Rückreise von Paris, ein etwas förmlicher Oberlehrer, aber liebenswürdig und deutschfreundlich. Lenz hat M-L seine Ankunft angekündigt u. mir seine letzten Schriften geschickt, wird aber keinen von uns beiden antreffen.

Ich habe mich in letzter Zeit mit Spengler und mit dem Wesen des Expressionismus beschäftigt und einen Beitrag für die Festschrift zum 50. Jahrestag meines Wiener Gymnasiums6|3| (an dem auch Walzel, Karl Kraus, Kammerer etc. studierten) über "Expressionismus und Sprachwissenschaft" beigesteuert, der vielleicht – nach dem Tode des Expressionismus erscheinen wird. Für Menendez Pidal's Festband habe ich einen Aufsatz "Grammatische Rückdatierung im Spanischen" eingeschickt7. Ich betätige mich also nur mehr abseits der Zünftler. Ist Ihnen beiläufig etwas über eine Vossler-Festschrift bekannt, die wohl 1922 erscheinen müßte u. angeblich von Lerch und Klemperer mit Ausschuß M-Ls, Gamillschegs, Spitzers redigiert wird? Wurden Sie aufgefordert?

Was ist eigentlich mit Simonyi's Bibliothek geschehen?

In wenigen Tagen treffen einige Logiergäste bei uns ein. Ich tue mit Begeisterung nichts als rudern, Klavierspielen etc. – so gut erziehen einen die akademischen Erlebnisse, daß sie einen vom Arbeiten entwöhnen. Riegler ist etwas gealtert und bequemer geworden.

Herzlichste Grüße vom etwas kühleren, aber sehr magyarisierten Wörthersee. Ihr alter und ergebener

Spitzer


1 Vgl. H.S. "Das Nadelöhr (Ztschr. 40, 516); frz. coqueluche Keuchhusten [etc.]" in: Zeitschrift für romanische Philologie 41 (1921): 694-703.

2 Ebd. wird auch "port. doudo, diodo" besprochen.

3 Spitzer spielt hier auf ein Schulbeispiel der Etymologiedebatte an, in diesem Fall getragen vorwiegend von Schuchardt und Gaston Paris, nämlich über den Ursprung des im Lateinischen nicht belegten Wortes für trouver, trovare, etc.

4 Spitzer bezieht sich wahrscheinlich auf die Cursos de metodología y alta cultura: curso de lingüística der Eusko-Ikaskuntza Sociedad de Estudios Vascos, 1921 ; darin der sehr bemerkenswerte Aufsatz von Tomás de Navarro Tomás: "Metodología de la fonética", Vorträge im Rahmen der Veranstaltung von Eusko Ikaskuntza (pp. 35-41).

5 Max Leopold Wagner, Dasländliche Leben Sardiniens im Spiegel der Sprache. Kulturhistorisch-sprachliche Untersuchungen. Heidelberg: Winter 1921.

6 Spitzer besuchte in Wien das k.k. Franz Joseph-Gymnasium.

7 Schuchardt selbst schreibt für diesen Band ein Geleitgedicht. Sein Erscheinen verzögert sich allerdings um Jahre: Homenaje ofrecido a Ramón Menéndez Pidal. Miscelánea de estudios lingüísticos, literarios e históricos. Madrid: Hernando 1925. Spitzers Beitrag mit dem genannten Titel findet sich im 1. Band, 49-62.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11058)