Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (290-11050)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

18. 05. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Menéndez Pelayo, Marcelino Wien Bonn

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (290-11050). Bonn, 18. 05. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2121, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2121.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


|1|

Bonn, 18. V.

ich füge noch einiges meinem Brief bei: Es gibt nur eine jüdisch-dtsch. Literatur? – es gibt aber doch eine spezifisch jüdisch-spanische von gutem Klang (siehe Menéndez y Pelayo's Aufsatz). Ferner gibt es eine judenchristliche: Schnitzler, Hofmannsthal, Beer-Hofmann, die im Ausland jedenfalls als "österreichische" angesprochen wird. Weiters gibt es neben jüdisch-dtsch. Musik (Mendelsohn, Goldmark) auch eine jüdischchristliche (G.Mahler). Am köstlichsten ist die Judenriecherei dort, wo man lange Jahre nichts "gerochen" hat: Rich.Wagner. Wie, wenn der Mann nun tatsächlich Jude war – dann ist das Deutschtum durch einen Juden am besten verkündet worden! Dann werden sich ja natürlich bald Bartelse finden, die da sagen: Mir ham's eh g'wußt!

Noch einen Punkt Ihres Briefes muß ich bestreiten: ich hätte mich in Wien, wo die Juden die Oberhand haben, glücklicher gefühlt als in Bonn. Nein und hundertmal nein! Kennen Sie mich so wenig, daß Sie nicht wissen, daß ich mit einem jüdischen Bankier oder Journalisten viel weniger zu tun haben möchte als mit extrem verbohrten deutschen Chauvinisten? Ich habe in meiner Kindheit sehr viel mit diesen Kreisen zu tun gehabt, die ich verabscheue. In Bonn herrscht im allgemeinen den Juden gegenüber ein gesitteter Ton, der in Wien nicht zu finden war. Anrempelungen wie man sie in einem Wiener Hörsaal erleiden muß, gibt es hier nicht. In dieser Beziehung geht es also hier besser. – Wenn Sie nach ungeheuer eindringlicher Zeitkritik doch bei dem Urteil landen "Gott, das ist alles begreiflich!", so verstehen wir uns nicht.

|2|

Lesen Sie bitte in der N.Fr.Pr. den von den hervorragendsten Schriftstellern Österreichs gezeichneten Antrag zur Milderung des Leids der ukrain. Juden – gewiß, die Bozener Bluttat ist fürchterlich. Aber was da an Fakten auftritt, ist es nicht noch fürchterlicher? Und das läßt Europa geschehen? Es sind eben "nur" Juden. Und die Deutschen wundern sich, wenn man sie als "nur" Deutsche betrachtet. Dieses "nur", die Einschätzung a priori, die Klassifizierung der Rassen an sich, ist das Verbrechen an der Menschheit.

Der Szene von jüd. Vorschlag von Nur-Juden setze ich folgende Fälle entge­gen, wo gerade Juden zeitlebens systematisch ausgeschlossen wurden: E. Levy (der wohl von Tobler oder Lommatzsch schwer zu unterscheiden ist), Rich.M.Meyer, Jellinek, Singer. Dagegen Ascoli und Ihre ital. Liste.

Herzlichste Grüße
Sp.

Die Fascisten sind aber doch im Wahlkampf erlegen. – Kennen Sie Enders' Besprech. von Spitzer – Sperber (mit Erwähnung Ihres Euphorion-Aufsatzes) in ZfdAltert letztes Heft.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11050)