Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (289-11049)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

18. 05. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Hugo-Schuchardt-Brevier Universität Freiburg (Schweiz) Universität Marburg Neue Freie Presse Südtirolfrage Romanistik Jud, Jakob Spitzer, Emma Bertoni, Giulio Farinelli, Arturo Ettmayer, Karl von Küchler, Walther Lerch, Eugen Meyer-Lübke, Wilhelm Wechssler, Eduard Wien

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (289-11049). Bonn, 18. 05. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2120, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2120.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


|1|

Bonn, 18. V.

Verehrter lieber Freund,

Es ist wirklich rührend, daß Sie an mich soviel Zeit und Mühe wenden, daß Sie das liebliche Fest durch die Auseinandersetzung mit dem dunklen Wesen, das ich nun einmal zu sein scheine, trüben. Und trotzdem – Ihr Brief enthält, ohne daß Sie es wollen, für mich manches Bittere.

Ich fange mit dem Konkretesten an: mit dem Schuchardt-Brevier. Fast scheint es mir, als ob Sie eben wegen der Weltanschauungsgegensätze zwischen uns befürchteten, Ihr Bild von mir travestiert zu sehen. Ich bilde mir allerdings ein, Sie wie keiner der jetzt lebenden Romanisten (außer Jud) zu verstehen – aber das ist vielleicht ebenso Illusion wie ich bis vor kurzem glaubte, daß ich auf die Fachgenossen als Gleicher unter Gleichen wirkte. Ich frage daher kurzweg, ob das Ihre Meinung ist, nicht etwa um bloß theatralisch die Vertrauensfrage zu stellen, sondern weil ich, wie Sie ja wissen, Ihnen vor allem eine Freude und der Sprachwissenschaft einen Dienst leisten möchte und nichts anderes. Ich habe ja das auch wohlbedacht, als ich Sie zuerst um Ihre Einwilligung bat. Übrigens, so weit ich Einblick habe, ist das Finanzielle von den 30 Schweizern ohne Pressung gegeben worden. Sollten Sie also Ihre Bedenken nicht gleich im Anfang geäußert haben, so ist es dazu noch immer Zeit; obwohl ich dann die Arbeit der Durchpflügung Ihrer Schriften umsonst [für die Öffentlichkeit] gemacht hätte, so wäre es ja doch nicht umsonst [für mich] geschehen.

Nun zu Ihrer Skizzierung des Unterschiedes zwischen Ihnen und mir: "Ich bin national, Sie sind anational". Das klingt sehr scharf trennend und ist doch nicht so arg in Wirklichkeit. Vor allem deshalb nicht, weil ich nicht nur anational bin oder, sagen wir, in letzter Zeit geworden bin.

|2|

Ich habe gewiß früher als Kind des internationalen französischen Wien für das Volkliche wenig Sinn gehabt – obwohl mich Eichendorffs Wälder, Brahms steile Sonnenhöhen, Goethe's deutsche Grazie stets hingerissen haben. Ich habe mich weiter im Kriege von dem herausfordernden Wesen der Chauvinisten abgestoßen gefühlt. Heute, wo Deutschland durch perfide Ränke bedroht ist, fühle ich das deutsche Leid so gut wie nur einer: bei der Lektüre der Londoner Verhandlungen (Simons!) sind mir die Tränen gekommen. Allerdings gehöre ich nicht zu denen, die wie eine hiesige Koryphäe in der Einleitung zu einem wissenschaftlichen Werk vom "Räubervierverband" sprechen und die dann das Nationale nur im herausfordernden Micheltum finden. Ich bin überzeugt, daß wir Juden sterben müssen als Juden und aufgehen im deutschen Volke – hätte ich Kinder, sie würden Christen wie meine Frau Christin ist.

Bei Ihrer Auffassung des Judenproblems wundert mich nur eines: ich gebe gern zu, daß Verschiedenes an dem Juden dem Deutschen sonderbar ist. Aber beruht die Empfindung für die Gegensätze nicht eben auf der Empfindung der Gegensätze, d.h. deutet man nicht sekundär alles Mögliche als Gegensätze im Bewußtsein, daß Gegensätze bestehen? Ich nehme mich wieder als Beispiel: also ich schreibe multum et multa, Zuviel, Zuvielerlei. Was aber tut Bertoni oder Farinelli? – Ich habe mich öfters geirrt – was aber tut Ettmayer? – Ich schreibe einen feuilletonistisch-journalistischen Stil – was aber tut Vossler? – Ich bin Pazifist – was aber tut Küchler? Nun kann man allerdings sagen: Sie besitzen aber die Summe dieser Abnormitäten – ich würde anworten mit dem Satz des Protestanten, der da schrieb "Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch" und ferner, daß auch Lerch trotz aller dieser Eigenschaften vorwärtskommt.

Ferner: so sehr wohl fühlen sich die Herren der anderen Seite bei ihrer Ablehnung meiner Person nicht – warum sagen diese denn nie: "Spitzer ist Jude, |3|wir mögen ihn nicht"? Sondern: "er hat noch kein Buch geschrieben" (1915 Ettmayer), "wir brauchen einen Literaten" (1918 Dresden II, Freiburg, 1919 Marburg), "wir brauchen einen strengen Philologen" (1920 Greifswald), "wir brauchen etwas anderes als in Bonn" (1919 Cöln)?

Weiters: wie kann Deutschland, ausgerechnet Deutschland, sich Judenhaß leisten, wo der Deutschenhaß der Welt aus gar keinen anderen Gründen ausgebrochen ist als der Judenhaß in Deutschland? Ich würde es auch verstehen, wenn man uns zuriefe: μετανοειτε – ändert euch, seid wie wir. Aber man sagt ja im Gegenteil: ihr bleibt ja stets was ihr seid. Man will uns anders.

Jüdisches Cliquenwesen habe ich mein ganzes Leben schärfer zurückgewiesen als Deutschnationales – in der Zensur habe ich einen jüdisch protektionistischen Oberleutnant der Lüge geziehen und sollte deswegen abkommandiert werden, ich habe im Krieg den Herausgeber der N.Fr.Pr. Benedikt mit Zornesbriefen traktiert usw. Auch glaube ich durch mein Auftreten für Maß und Völkerversöhnung Deutschland in ausländischen Romanistenkreisen nur genützt zu haben.

Ja, es ist wahr, die romanischen Juden sind national, die deutschen nicht – warum? Weil sie auch nicht so getreten werden. Lesen Sie nur die zahlreichen Léviy's im Katalog der Sorbonne! Gleich zu Beginn des Weltkriegs wurde in Deutschland eine Judenzählung im Heere gemacht. An die Reserveoffizierschmach erinnere ich nur im Vorbeigehen.

Wenn Sie nun schreiben, ich könne schon seit Jahren nichts mehr für mein Fortkommen tun, so bleibt mir nur der Selbstmord als logische Konsequenz übrig: vor einer solchen Maßregel versuche ich es noch mit einem anderen Auskunftsmittel: dem der Beschämung. Ich werde nach einer gewissen Zeit – jetzt bin ich absolut zermorscht – das Beste zu leisten trachten, wenn die Menschen, die so grausam das Völkerringen an mir wiederholen zu beschämen.

A. Kerr erklärt den Antisem. als eine "Feigheit" der zahlenmäßig Überlegenen: denken Sie daran, wenn die Juden irgendwo die Mehrheit hätten und das Anderssein den Christen so verübelten? Wie würde sich z.B. die mangelhafte ...

|4|

[Zeile im Original entfernt]

Ihre Auffassung von Italien im Nachkrieg teile ich. Ich habe nicht viel übrig für den Raub der Südtiroler Deutschen. Aber wütender bin ich gegen die Franzosen: "Hand am Kragen" und derlei Sadismen erfüllen mich mit Beschämung. Auch ich bin also nicht Romanenfreund von der Wiege bis zum Grabe, soweit die Politik in Frage kommt. Aber romanisches Wesen und Lebensart liebe ich heiß.

Es ist tragisch, wenn man in seiner Reifezeit zur Einsicht gelangt, daß man seinen Beruf verfehlt hat: ich hatte als Gymnasiast und Hochschüler naiv gedacht (und so auch mein Gymnasiallehrer Privatdoz Dr. Castle, der mich an M-L empfahl): ich liebe romanisches Wesen und romanische Literatur – daher studiere ich Romanistik. Ich erfahre mit 35 Jahren: der Romanist hat romanisches Wesen zu hassen (siehe Karl Toth Dtsch. Rdsch. 1920) und romanische Literatur zu unterschätzen (siehe Wechssler, Lerch etc.). Ich hatte als Jüngling gedacht: schreibe wie du redest, so schreibst du schön. Ich sehe als Mann ein: schreibe wie man redet, so kommst du weiter. Ich hatte mir eingebildet: wenn man sich bemüht, sein Ureigenstes und mit anderen Unverwechselbares zu geben, so trägt man bei zur Kultur. Ich erfahre jetzt: man muß "abgestempelt" sein, um auf ein Volk zu wirken. Ich hatte als Motto gesetzt: sei bloß du selbst – ich sehe nun ein: sei nie du selbst. Ich bin ein Greis geworden, ärgeres als ein Greis der numerischen Jahre, ein gebrochener, junger Greis.

Nehmen Sie herzlichste Grüße von uns beiden Armen – ich schließe diese "Bekenntnisse eines Unschuldigen", wie meine Frau sehr richtig sagt, mit dem herzlichsten Dank für Alles, was Sie mir in den Jahren unseres Briefwechsels gegeben, vor allem für die Eigenschaften deutschen Wesens, die ich an Ihnen schätzen gelernt.
Spitzer

Cillévveda = Zervelatwurst halte ich nicht für richtig wegen der Betong. u. der ältesten Vbform cidierneda (mit der auch M-L nicht fertig wird).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11049)