Friedrich Diez an Hugo Schuchardt (09-02323)

von Friedrich Diez

an Hugo Schuchardt

Bonn

19. 08. 1868

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Bonnlanguage Sardisch Delius, Nikolaus Schuchardt, Hugo (1868)

Zitiervorschlag: Friedrich Diez an Hugo Schuchardt (09-02323). Bonn, 19. 08. 1868. Hrsg. von Bernhard Hurch (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.212, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.212.


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Hochverehrter Herr!

Ich bitte sehr um Entschuldigung, daß ich Ihren am 26. vorigen Monats bei mir angekommenen Brief nicht früher beantwortet habe. Allein Anfangs beschäftigte mich, wie uns alle, unser großartiges Universitätsjubiläum1 und namentlich die damit zusammenhängenden Besuche von Auswärtigen, und später machte mich die unter dessen gestiegene wahrhaft tropische Hitze fast unfähig, die Feder zur Hand zu nehmen.

Empfangen Sie zuvörderst nochmals in directer Weise meinen verbindlichsten Dank für den 3. Band Ihres bedeutenden Werkes,2 dessen Zueignung mir zur Ehre gereicht. Ich wende mich sogleich zu Ihrer Frage. Hier muß ich betonen, daß es nicht leicht ist, in Dingen, die für das ganze Leben entscheidend ausfallen können, Rath zu ertheilen. Überdem lassen sich solche Fragen besser mündlich als schriftlich verhandeln. Im Ganzen halte ich die Aussichten, welche das Studium der romanischen Sprache und Litteratur gewährt, für günstig, da man ziemlich allgemein anfängt, Stellen an Universitäten und höheren Schulen dafür zu errichten. Sie würden sich in Betracht Ihrer rühmlichen Leistungen an jeder größeren Universität mit Aussicht auf Erfolg niederlassen können, vorzugsweise an einer solchen, wo die vorhandenen |2| Lehrkräfte nicht ausreichen; doch würde dies von Ihren häuslichen Verhältnissen abhängen, die mir nicht bekannt sind. Gegenwärtig sind mehrere Lehrstühle für unser Fach theils erledigt, theils im Begriffe errichtet zu werden, z. B. in Freiburg, Würzburg, Königsberg und wie ich höre, auch in Breslau. Für die drei ersteren habe ich, von dort aufgefordert, Vorschläge gemacht, aber bis jetzt ohne Erfolg, wie ich denn überhaupt in diesem Geschäft kein Glück habe. Einen hieher gehörigen traurigen Fall haben wir hier erlebt. Unser Privatdocent Treitz3 hatte sich um die durch Lemckes Abgang4 erledigte ordentliche Professur in Marburg, für welche die dortige Facultät den Prof. Bartsch5 zu Rostock vorgeschlagen hatte, gemeldet und sie zum Erstaunen aller Welt erhalten. Dieser unerhörte Erfolg war ihm so zu Kopf gestiegen (denn er hatte sich nur auf ein Extraordinariat gefaßt gemacht), daß er den Verstand darüber verlor und als unheilbar betrachtet wird. Man wird abwarten, aber in einigen Jahren müßte auch diese Stelle wieder besetzt werden. Ich theile Ihnen diese Notizen mit, um Sie in der Sache ein wenig zu orientieren.

Daß Sie sich mit der römischen Mundart beschäftigen ist recht erfreulich. Eine Arbeit darüber, die sich den ähnlichen Monographien von Wentrup6 oder unseres Delius (über Sardisch)7 anschließen würde, wäre sehr geeignet, Ihre Absichten zu unterstützen.

Hochachtungsvoll habe ich die Ehre mich zu nennen

Ihren Ergebensten

Dr. F. Diez

(Bonn 19. August 68)


1 Vom 2. - 4. August 1868 fanden in Bonn große Feiern zum 50-jährigen Bestehen der Universität statt.

2 Schuchardt (1868).

3 Wilhelm Treitz, 1838 in Düsseldorf geboren, promovierte in Tübingen, Habilitation 1866 für neuere Sprachen in Bonn, wurde zum Sommersemester 1868 auf den Lehrstuhl für neuere Sprachen und abendländische Literatur in Marburg berufen, war aber schon im Juni des gleichen Jahres wegen einer nicht weiter definierten Geisteskrankheit dienstunfähig. Er starb ein Jahr später im Juni 1869.

4 Ludwig Lemcke (1816-1884) war Professor für Abendländische Sprachen in Marburg, beschäftigt sich sowohl mit Literatur- wie mit sprachwissenschaftlichen Studien, Dialektforschung, historischer Sprachwissenschaft und Textkritik, und zwar nicht nur romanischer Sprachen sondern auch des Englischen. 1867 nahm er einen Ruf nach Gießen an, über weitere Stationen kehrte er ab 1874 nach Marburg zurück. Wichtige Mitarbeit an allen großen Projekten der sich professionalisierenden Romanistik.

5 Karl Bartsch (1832-1888), Altphilologe und vorwiegend germanistischer Mediävist, hat Anfang der 1870er Jahre auch ein Werk zur Geschichte der provenzalischen Literatur verfaßt.

6 Vgl. Friedrich Wentrups (1855) Beiträge zur Kenntniss der Neapolitanischen Mundart. Veröffentlichungen auch zum Sizilianischen.

7 Sie oben Fußnote zu Brief 2321.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 02323)