Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (286-11046)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

12. 04. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Positivismus (Sprachwissenschaft) Idealismus (Sprachwissenschaft) Curtius, Ernst Robert Jud, Jakob Vossler, Karl Meyer-Lübke, Wilhelm Pușcariu, Sextil Herzog, Eugen Urtel, Hermann Ronjat, Jules Lerch, Eugen Gilliéron, Jules Bonn Schuchardt, Hugo (1921) Gilliéron, Jules (1921) Schuchardt, Hugo (1882) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1920) Schuchardt, Hugo (1920) Schuchardt, Hugo (1895) Schuchardt, Hugo (1920) Schuchardt, Hugo (1917) Schuchardt, Hugo (1913)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (286-11046). Bonn, 12. 04. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2117, abgerufen am 31. 05. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2117.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 12. IV.

Verehrter lieber Freund,

Für Ihre beiden Briefe und die Sendung verschiedener cosas y cosillas danke ich Ihnen herzlichst.

Was nun vor allem den Pazifismus angeht: Wenn ein Haus brennt, überlegt man sich nicht lange, ob man den armen Besitzern oder den Mitlöschern vorgestellt ist, und löscht irgendwie mit – wenn Europa brennt, so müssen alle Freunde der Kultur heran. Ich bezeichne also als Pazifisten jeden, der den Willen hat, große Konflagrationen zu vermeiden oder beizulegen. Für Definitionen, Kasuistik etc. scheint mir die Zeit zu vorgerückt. Sie haben stets betont, daß die Völker der Erde und besonders die Anrainer sich vertragen müssen – das genügt mir Naivling. Andere freuen sich, wenn es Blut und Schläge gibt: "Du sang, de la volupté et de la mort" heißt ein Buch von Barrès, dessen blutgetränkten Nationalismus jetzt Curtius hübsch gezeichnet hat.

Ich glaube nicht, daß Jud Ihr Gedankengang in Sprachurspr. IV1 beleidigt haben kann. Die erwähnte Anm. ist allerdings nicht ganz klar, weil mir 2 Gegensätze verknüpft zu sein scheinen: Monograph-Synthetiker und Positivist-Idealist. Man kann diese 4 Glieder beliebig verheiraten: idealistischer Monograph: Hugo Schuchardt; idealistischer Synthetiker: Vossler; positivistischer Synthetiker: Meyer-Lübke; positivistischer Monograph: Thomas etc. – aber ich gerate schon wieder in Klassifikationen...

Im übrigen ist Jud manchmal ein rechter Konfusionarius: mir schreibt er, ich solle Sie nicht zuviel mit Fragen belästigen, aber er stellt selbst welche und will Sie noch mit wissenschaftl. Knixen an die PT. Subskribenten behelligen. Ich lese ihm nächstens die Leviten. Mir schreibt er, ich solle ihm M-L., Puşcarius, Herzogs u. mein Bildnis für sein Seminar verschaffen – von M-L will er wieder das M-L's, Schneegans' und Förster's. Figaro quà Figaro là?

Urtel ist ein sehr schreibfauler Herr – ich habe noch immer keine |2|Antwort auf die Sendung meiner Kgf.-Briefe und enchifrené. Von Ronjat habe ich zuletzt etwa März 1919 ein paar Separata aus RLR erhalten.

Etwas eifersüchtig auf Jud müßte ich eigentlich sein, da Sie eine keineswegs "kühne" Gabe von ihm annehmen, von mir nicht – aber ich füge mich Ihren Gründen, wenn auch widerstrebend. Ob Sie das Lerch-Röllchen erhalten haben? Heute muß man froh sein, wenn überhaupt etwas ankommt.

Kennen Sie Gilliérons Thérapie-Pathologie IV (über vierge etc.)?2 Steht zur leihweisen Verfügung.

Ihren Standpunkt des bloß produktiven Lesens teile ich vollkommen, ich muß stets an mich halten, nicht über alles etwas zu schreiben, was ich lese. Alles im Leben und besonders in der Sprache ist ja interessant. Ich würde mich anheischig machen, durch die Weberstraße in Bonn zu gehen und eine Arbeit über die "Syntax der Weberstraße" od. dgl. zu schreiben! Auch darin glaube ich Ihnen nachzugeraten, daß ich stets Gelegenheitsdichtungen schreibe, d.h. daß ein besonderer literarischer Anlaß mir gebietet zu sagen was ich denke. Aber gerade das wird mir als Besserwisserei beübelt. Ich bin überzeugt, daß nur Streit und Polemik die Wissenschaft weiterbringt – aber man liebt hierzulande jene saft- und kraftlosen Arbeiten, die niemand wehtun, weil sie eben niemand überraschen.

Nun meine von Ihnen eiligst vorausgesehenen Desiderata!: 160, 188, 247, 248, 254, 287, 288, 296, 336, 394, 395, 437, 504, 558, 587, (die Hungarica, weil ich mich auf Balassa's Exzerpte nicht verlassen möchte), ferner von den Addenda:

El Folklore Andaluz 1, 259ff.3

Rev. basque10, 201 ff. (Zu iber. ę u. ǫ)4
"      "11, 44 (letagin)5
"      "11, 50 (Vinson) 6ev. nur leihweise (ebenso wie das Georgische8 u. Neuphil. Bl., die ich in einem retourniere)
"      "11, 138 (Urquijo)7

Einige Nachträge zu den Addenda: Jelentésváltozás – Jelölésváltozás M Ny. 46, 137ff.9

A szófejtés módszeréhez M Ny. 42, 422ff.10

(nur zu Ihrer Information – ich brauche diese Schriften nicht!)

Ich glaube versprechen zu können daß ich Sie nun in der Brevier-Angelegenheit zum letztenmal belästige.

Ergebenste Grüße. Beste Wünsche für Kopf-Erleichterung (ist das nun richtig?)

Spitzer

Bitte um Entschuldigung wegen des Fettüberflusses – der auf Rechnung der Küchenabteilung geht u. übrigens ein Zeichen von Deutschlands Erhöhung ist...


1 "Exkurs zu Sprachursprung III", in: Sitzungsberichte der (königlich) preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1921, S.194-207 ("Sprachursprung IV" existiert nicht).

2 Vermutlich ist Jules Gilliéron, Pathologie et thérapeutique verbales, Paris 1921, gemeint.

3 H.S., "Analogía entre los cantares alpinos a los andaluces. Carta á Demófilo", in: El Folk-Lore Andaluz 1 (1882): 259-286.

4 H.S., "Zu iber. ę u. ǫ den Ortsnamen [Rev.de filo.esp. 5, 225ff.]", in: Revista internacional de estudios vascos 10 (1919): 201f.

5 H.S., "Letagin", in: Revista internacional de estudios vascos 11 (1920): 44.

6 H.S., "Zu Vinsons 'Syntaxe basque' Rev. 10, 58ff.", in: Revista internacional de estudios vascos 11 (1920): 50-52.

8 Es gibt mehrere Schriften Schuchardts zum Georgischen; am ehesten ist wohl gemeint: Über das Georgische. Wien 1895.

7 H.S., "Brief an J. de Urquijo", in: Revista internacional de estudios vascos 11 (1920): 138ff.

9 H.S., "Jelentésváltozás - Jelölésváltozás (Cselekvö és szenvedö jelentés)", in: Magyar Nyelvör 46 (1917): 137-140.

10  H.S., "A szófejtés módszeréhez", in: Magyar Nyelvör 42 (1913): 422.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11046)