Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (285-11045)
von Leo Spitzer
an Hugo Schuchardt
29. 03. 1921
Deutsch
Schlagwörter: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Germanisch-Romanische Monatsschrift Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Vossler, Karl Meyer-Lübke, Wilhelm Jud, Jakob Schuchardt, Hugo (1917) Spitzer, Leo (1917) Schuchardt, Hugo (1919)
Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (285-11045). Bonn, 29. 03. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2116, abgerufen am 31. 05. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2116.
Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.
Bonn, 29. III.
Verehrter lieber Freund,
Vielen Dank für Ihren lieben Brief. Ich will Ihnen keine für jugendlichere Jahrgänge geeigneteren Turnübungen zumuten. Von Druckfehlern habe ich bisher nichts als in 460 S. 242-260 (st. 141-160) gefunden. Dagegen erachte ich es für richtig in Fällen wie 346, 409 das Wort, um das es sich handelt ( permaine, cochlea od. dgl.) hinzuzufügen. Eine sehr lohnende Aufgabe wäre auch noch einen Lebens-Wortindex zu machen, das bleibt anderen aufgespart, ferner die Zusammenstellung aller Rezensionen über Sie. Ich vermisse noch die Einschaltungen in meiner "Milz"-Besprechung1 und die Miszelle über span. zara im Archiv2 – und das "Verzeichnis der Druckschriften" 1916 in dem Verzeichnis.
Was mich in Ihren Schriften vor allem fesselt, das ist, daß Sie von Ihrer Spezialwissenschaft aus zu einer Weltanschauung vordringen, das Einzelwissen immer nur als relativ kleine Sache gegenüber dem großen Hintergrund der Idee halten – übrigens etwas, was mich auch an Vossler fesselt und bei Meyer-Lübke fehlt. Diesen beiden aber fehlt es am richtigen Gleichgewicht zwischen Wissen und Weltanschauung; selbstverständlich sind sie in ihrer Gegensätzlichkeit sich doch darin gleich, daß sie, der eine den "Idealismus", der andere den "Positivismus" zu wenig schätzen. Bei Ihnen ist dagegen ein glücklicher Ausgleich vorhanden.
Weiters aber erbaut mich das konstante Entgegentreten den billigen Schlagwörtern gegenüber und das Zurückweisen der communis opinio, sofern sie eine "ordinäre" ist. Ich verstehe vollkommen, daß Sie sich von Ihrem akademischen Wirken wenig befriedigt fühlten: wie sollte ein freier, nur nach den Geboten seines kritischen Geistes u. seines menschlichen Herzens handelnder Mensch wie Sie nicht Anstoß erregt haben in einer Gesellschaft von nur in ihrem Spezialgebiet (und nicht einmal dort) kritischen, sonst aber herdengläubigen Materialisten wie es nun einmal der Durchschnitt der Professoren ist. Aus den Dingen, die Sie in Ihren Schriften befehden, ersehe ich daß diese Gesellschaft sich noch gar nicht geändert hat, daß die Haltung, vor der Sie vor vielen Jahren warnten, heute noch die gewöhnliche ist.
|2|Sie waren und sind ein polemisches Temperament – ich glaube auch ein solches zu sein, wenngleich mir Ihre Ruhe und Abgeklärtheit (schon in Ihrer Jugend!) fehlt. Aber damit ist man ein Störenfried, ein Hecht im Karpfenteich. Sie haben stets Qualitäten geboten – wie aber wenn man nur Quantitäten im Reich versteht? Das scheint mir auch der tiefere Sinn Ihres Verbleibens in dem für Nuancen und Modulationen so empfänglichen Österreich.
Nun eine Einzelheit: in Deutschland gilt die kritische Tätigkeit nur als "Besserwisserei" – immer wieder höre ich, wie man mir verübelt, dass ich Rezensionen übernehme. Ja was haben Sie für Kostbarkeiten in Ihre Eris-Äpfel im Lbl. hineinverlegt!
Die Erwähnung des Lbl. bringt mich auf ein anderes, aber naheliegendes Thema. Dürfte ich, ohne "Sanktionen" zu gewärtigen, Ihnen das Lbl. aufdrängen so wie Jud mit der Ztschr. getan hat? Dieser Gedanke entspringt nicht allein altruistischen Motiven, wenngleich diese selbstverständlich Ihnen gegenüber vor allem vorhanden sind: aber ich erspare mir so das Senden der Separata. Ich bitte Sie also, mir ein solches Geschenk nicht zu verübeln: bin ich auch kein Krösus, so ist es mir unerträglich, Sie von einer Quelle wissenschaftlicher Information ausgeschlossen zu wissen, die mir selbst offensteht. Bitte darüber um eine Meinungsäußerung. Sollten Sie das Lbl. nicht mögen, bitte um einen anderweitigen Vorschlag (GRM, Archiv etc.).
Was Sie von meinem Nicht-Fortkommen sagen, ist in Bezug auf Sie selbst nicht berechtigt: man erkannte an der Kralle den leo – aber dem unterzeichneten Leo hat man bisher nur Krallen gezeigt. Im übrigen bin ich sehr begierig auf Ihre akademischen "Bekenntnisse und Erkenntnisse".
Herzliche Grüße von Ihrem allzeit ergebenen
Spitzer
1 Im Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 38 (1917): 322-330.
2 Erschienen im Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 136 (1917): 165.