Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (280-11040)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

03. 02. 1921

language Deutsch

Schlagwörter: Französischsprachige Literatur Universität Göttingenlanguage Baskischlanguage Spanischlanguage Spanische Dialektelanguage Spanische Dialekte (Asturien) Meyer-Lübke, Wilhelm Niemeyer, Hermann Spitzer, Emma Bovet, Ernest Hilka, Alfons Bonn Österreich Spitzer, Leo (1922) Schuchardt, Hugo (1870) Schuchardt, Hugo (1866) Schuchardt, Hugo (1867) Schuchardt, Hugo (1868)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (280-11040). Bonn, 03. 02. 1921. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2111, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2111.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 3. 2. 1921

Verehrter lieber Freund,

Lassen Sie mich Ihnen herzlich danken für den lieben Brief, den Sie geschrieben haben, und besonders für die Ansprache, die ein schönes Revanche-Geburtstagsgeschenk ist und die ich mir zu erwidern erlaube. Sie wollten diese Inkonsequenz "rechtfertigen" – nun, ich glaube, Sie wissen jetzt (und nicht etwa im Zusammenhang mit dem Brevier1), daß ich nicht nur "Schüler" anderer "Schule", sondern im Gegenteil Ihnen herzlich ergeben bin. Sie wissen wohl auch, daß ich mich immer mehr diametral zu Meyer-Lübke entwickle, aber daß ich natürlich nie vergessen werde, was ich ihm verdanke. Mit ihm verbindet mich gewissermaßen Blutsverwandtschaft, mit Ihnen Wahlverwandtschaft. Es läßt sich da nicht streiten, was stärker sei – ist auch gleichgiltig. Daß solche Gegensätze und Wandlungen nicht ohne Härten und Kämpfe in mir abgehen, werden Sie sehr gut begreifen. Wir kämpfen ja alle den Kampf zwischen Individualität und Tradition aus.

Daß die Idee des Breviers Ihnen gefällt, freut mich von Herzen und ich habe es den Schweizern sofort |2|mitgeteilt. Die Finanzierung ist absolut sicher, auch dank dem Entgegenkommen Niemeyers, des einzig großzügigen Verlegers, den ich kenne. Die Unterschrift löse ich einfach aus einem Ihrer Schreiben los und lasse sie faksimilieren – das wird Ihnen keine Scherereien mehr bereiten. Schwieriger ist die Abgrenzung des "Kriegerischen": eines meiner Kapitel muß sich zweifellos betiteln: "Sprache und Nationalität". Da müssen Aussprüche allgemeiner Art über dies Thema herein. Sind Sie dagegen? Wenn ich mir ein Urteil erlauben darf, so würde ich in die Bibliogr. alles aufnehmen, im Brevier dagegen nur Algebraisches, ohne Ansehung des Speziellen. Ihre Auffassung der Kriegsprobleme ist schließlich mit Ihrem ganzen Menschen verknüpft. Es wäre z.B. sonderbar, wenn ich im Brevier eine Druckschrift anführe, die in der Bibliogr. fehlt. Sehr dankbar wäre ich für baldige Übersendung Ihrer Zusätze (das Churwälsche2 fehlt z.B.), ev. bin ich bereit, Ihre Aufschreibungen, falls solche existieren, durch meine Frau mit Maschinenschrift kopieren zu lassen. Für ev. Überlassung von Quellen herzlichen Dank: vorläufig arbeite ich die bei mir und in Bonn erhältlichen Schriften durch. Wie frisch und modern ist doch noch der prinzipielle Teil des Vok. d. Vlglat.!3

Ihr Erlebnis mit dem Platinring ist sehr traurig. Etwas Ähnliches erlebten wir auch vor kurzem: die herrlichen Goldgebisse |3|meines verstorbenen Vaters wollten wir – die Not der Zeit macht pietätlos – verkaufen. Wir suchten sie, suchten sie – sie sind gestohlen, mitten aus der Wohnung heraus.

In diesen Tagen liest man mit Herzklopfen die Zeitung, die nichts bringt, was nicht unerfreulich, gemein und niederdrückend wäre. Armes deutsches Volk! Der Siegerübermut hat keine Grenzen. Und doch gibt es so aufrechte Männer wie Bovet, die das verteidigen können. Neulich schrieb mir Jeanroy einen Brief ungefähr des Tenors: wenn ich die alleinige Kriegsschuld Deutschlands anerkenne, können wir wieder gut Freund sein. Wie sollte ich diese Bedingung erfüllen, wo es meine Überzeugung, daß die Schuld bei allen liegt? Für Romanisten meines Alters ist die Aussicht, nie wieder mit Frankreich ins Gleiche zu kommen, ein schwerer Schlag – eben weil mein Denken so französisch ist. Neulich las ich einige Aphorismen Hofmillers über die frz. Literatur in den Südd. Monatsheften – alle seine Einwände treffen meine Art zu schreiben u. zu denken – also logischer Schluß: ich bin wie jene.

Darf ich fragen, welche Zeitschriften Sie gegenwärtig abonnieren, damit ich Ihnen die entsprechenden Separata sende?

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Halten Sie noch die Etymologie bask. inkurrio 'Groll', sp. engurria 'Traurigkeit' = rancor, asp. engurria 'Falte' = puga fest? Ich vermute nämlich, daß wir von salam. engarillar 'entumirse', astur. ergurriar, -uiar (s. Rato) = carilinus für beide auszugehen haben: 'trocknen, faltig, rissig, alt werden, unwirsch sein' etc. Was sagen Sie dazu?

Haben Sie das Falterröllchen und die Flatterlerche erhalten? Auf Ihre Aufsätze freue ich mich.

Von der Besetzung des Göttinger Lehrstuhls hört man nichts. Hilka scheint nicht in Betracht zu kommen, also sind meine Greifswalder Aussichten gering. Es ist halt ein Jammer.

Nach Österreich kommen wir erst im August: die Reise dahin ist jetzt unerschwinglich für die Semesterferien, auch würden wir ohne Bedienung sein u. meine Frau müßte alles Häusliche allein besorgen. In uns ist etwas Unzufriedenes: ich hätte nie gedacht, daß der ausbleibende Kindersegen solche innere Umwälzungen zur Folge haben könnte: wir haben das Gefühl, ein böses neidisches Geschick verfolge uns. Überall in der Professorenwelt um uns kommen Kinder zur Welt – von den unweiblichsten Frauen geboren. Und meine, so weibliche, mußte solche Enttäuschungen erleben!

Seien Sie herzlichst und ergebenst begrüßt von Ihrem alten Freunde

Spitzer


1 Spitzer erwähnt hier zum ersten Mal das von ihm zu Schuchardts 80. Geburtstag herausgegebene Schuchardt-Brevier. Ein Vademecum der allg. Sprachwissenschaft. Halle: Niemeyer 1922. Unter den "Schweizern" ist jene Gruppe von Schweizer Kollegen gemeint, die die Erstauflage des Breviers finanziell ermöglicht haben; eine Liste findet sich in der ersten, dann aber nicht mehr in der zweiten Auflage.

2 H.S., Über einige Fälle bedingten Lautwandels im Churwälschen. Gotha 1870. Schuchardts Habilitationsschrift.

3 H.S., Der Vokalismus des Vulgärlateins. I - III. Leipzig: Teubner 1866-1868, seine Dissertation.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11040)